Schnee
Yrsa Sigurdardóttir kannte ich bisher nicht, obwohl die eine sehr treue und recht große Fanbase hat. Allerdings schreibt die eben auch Krimis und Thriller, beides Genres, die ich im Großen und Ganzen meide. Es gibt zwar immer mal wieder überraschend gute Ausnahmen, aber es bestätigt sich meist die Regel, dass alter Wein in neue Schläuche gekippt wird. Ist ja auch kein Wunder bei abertausenden Romanen in diesen Genres. In keiner anderen Gattung gibt es dermaßen viele Serien und Massenware. Komissar*in XYs siebter Fall etc. etc. etc. Nun hätte ich im Normalfall also Yrsa Sigurdardóttir ignoriert, aber es gab etwas in der Ankündigung, das mich doch sehr neugierig gemacht hat. Denn ganz offenbar ist Schnee von einem wahren Fall inspiriert, nämlich dem Unglück am Djatlow-Pass. Und da ich mich mit diesem mysteriösen Fall schon reichlich beschäftigt habe, fielen mir die frappanten Überschneidungen sofort auf. Dass Sigurdardóttir eine eigene Geschichte erzählen wird und sich nur lose von Djatlow inspirieren ließ, ist aber von Anfang an klar. Nichtsdestotrotz für mich eine spannende Voraussetzung.
Unheimlich, gruselig, spannend
Sowohl im Roman als auch im wahren Fall geht es um eine Gruppe, die in einem harten Winter bei einer Wanderung von einem Unwetter überrascht wird und anschließend als vermisst gilt. In beiden Fällen finden sich Leichen nicht im Basiscamp, sondern im erweiterten Umfeld, teils leicht bekleidet und mit erschütternden und unerklärlichen Verletzungen. Selbst die Wunden entsprechen teilweise dem wahren Fall. Und sogar kleinste Details wurden Eins-zu-eins von Sigurdardóttir adaptiert. Da es um die ungeklärten Tode in der Sowjetunion reichlich Mythen gibt, sind einige Stellen von der Autorin geradezu grandios eingearbeitet, wenn sie diese mit einem Handstreich erklärt und somit aus einem Riesenbrimborium eine simple, logische und wissenschaftlich sogar haltbare Erklärung liefert. Dies aber nur als Hinweis für Leser*innen, die sich ebenfalls schon mal mit dem Unglück am Djatlow-Pass beschäftigt haben. Für alle anderen fehlen dann zwar die Anspielungen, was aber nichts an der Geschichte ändert. Diese kann man auch genauso ohne Kenntnisse des Vorbildes lesen und genießen.

Die fantastische Landschaft Islands bildet den perfekten Gruselhintergrund
Autor: zeitfaenger.at | CC BY 2.0
Neben dem erzählerischen Hauptstrang der „Wandergruppe“ gibt es noch zwei weitere Ebenen mit jeweils dazugehörigen Rückblenden. Dabei ist eine Geschichte geheimnisvoller als die andere. Was geht auf der einsamen ehemaligen US-Militär-NATO Radarstation vor sich? Warum ist einer der beiden Wartungsingenieure durchgedreht? Und woher kommt eigentlich die Katze? Aber im Wesentlichen folgen die Leser*innen dem Rettungsteam, das sich auf die Suche nach den Vermissten gemacht hat. Gibt es noch Überlebende? Was ist mit den Wanderern passiert und wie sind die da überhaupt hingekommen? Sigurdardóttir spielt viel mit Erwartungshaltungen und Wahrnehmungen bzw. Perspektiven. Was ist Realität, was ist Fantasie? Allein schon diese virtuose Augenwischerei macht den Roman zu einem Lesevergnügen. Gepaart mit der stetigen Spannung ist Schnee ein wahrer Pageturner.
Die Räder greifen ineinander
Die herausragendste Kunst von Yrsa Sigurdardóttir liegt allerdings im Geschichten plotten. Schnee ist genial geplottet. Aber wie das ja landläufig so ist, liegen Genie und Wahnsinn eng beieinander. Und so ist es ein geradezu wahnsinnig guter Plot. Da liegt dann auch das Problem von Schnee. Denn es ist auch auf Teufel komm raus konstruiert, was zu völlig abwegigen Konstellationen und Geschehnissen führt. Das kann man dann als genial empfinden oder eben als absurd. Bei mir war es ambivalent, aber weder hundertprozentig überzeugend noch völlig enttäuschend. Würde sich Schnee nicht so ernst nehmen, dann könnte man das alles mit einem Schmunzeln abtun, aber letztlich überwiegt hier der Grusel, der Horror und der Thrill. Und da wirkt dann die Geschichte auf mich am Ende doch zu gewollt. Ein bisschen Stephen King auf Drogen. Wobei…
Aber keine Frage, Schnee ist ausgezeichnete Unterhaltung. Wer Thriller mit Grusel und Mysteryeffekten mag, wird hier vollends zufrieden gestellt. Wer es lieber etwas realistischer mag und zu hart geplottete Geschichten eher enervierend findet, sollte sich aber vielleicht woanders umsehen.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei btb.

Thriller
31. August 2022
Paperback, Klappenbroschur
352
https://www.penguinrandomhouse.de/Paperback/SCHNEE/Yrsa-Sigurdardottir/btb/e593214.rhd
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
17,00 €
978-3-442-75952-1

Ein wahnsinnig (gut) geplotteter Grusel-Thriller mit Anlehnungen an den Djatlow-Pass Fall.