Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft.
Harald Welzer steigt in seinem kurzen Essay „Wir sind die Mehrheit“ gleich voll ein, damit die Verhältnisse geklärt sind: „Menschen wie Pretzell und Seehofer, so lässt sich unschwer erkennen, fehlt jeder Anstand, ja sogar das ganz normale moralische Grundgerüst, das wir voneinander in modernen Gesellschaften erwarten.“ Unklare Verhältnisse benötigen klare Worte. Und so wird der CSU Generalsekretär Scheuer, als das bezeichnet, als was er sich gebiert: als Rassist.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer, der sich lange Zeit mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust beschäftigt hat, sieht die Demokratie den schwersten Angriffen der Nachkriegszeit ausgesetzt. Die Angriffe kommen von den Menschen- und Demokratiefeinden, den Feinden der Freiheit, namentlich den Islamisten und den Neurechten.
Kurz und präzise. Das ist der Stil des Essays. Das Zielpublikum sind schlichtweg alle Demokraten, gleich welchen Alters und Bildungshintergrunds. Welzers Ton ist meist analytisch, zwischendurch aber auch, ganz dem Plädoyer verhaftet, schnoddrig, direkt, ohne Umschweife auf den Punkt.
Schließlich geht es hier auch um etwas. Es ist kein wissenschaftlicher Essay, der im Elfenbeinturm diskutiert werden soll. Vielmehr könnte und sollte das Buch eine Postwurfsendung in jeden Haushalt sein. Es geht um nicht weniger als die Verteidigung der offenen Gesellschaft. Dazu bedarf es klarer Analysen, deutlicher Worte aber auch Handlungsoptionen, Hilfestellungen. Was kann getan werden? Was kann jeder einzelne tun? Als erste Anregung formuliert Welzer am Ende jedes Kapitels Regeln.
Harald Welzer ist kein Alarmist. Ganz im Gegenteil. Zumal er als Soziologe und Sozialpsychologe die Langfristperspektive des Soziologen Norbert Elias übernommen hat. Wenn also jemand, der in Mehrgenerationen-Zeiträumen denkt, beginnt vor den Neurechten zu warnen, sollten wir (spätestens jetzt) diese Warnung sehr ernst nehmen. Natürlich gibt es weitaus profundere und umfangreichere Analysen von AfD, Pegida und Co. Aber es gibt kein dermaßen niedrigschwelliges Angebot, wie diese Flugschrift von Welzer. Das Buch kann und sollte jeder lesen. Was ist die offene Gesellschaft und warum sollten wir sie verteidigen? Wer sind die Menschenfeinde, die das Grundgesetz missachten und die Demokratie gefährden?
Die Neurechten arbeiten an der Abschaffung der Demokratie
Welzer zeigt auf, warum wir uns nicht in der trügerischen Sicherheit der institutionellen Demokratie ausruhen dürfen. Die Weimarer Republik ging demnach nicht unter, weil sie zu viele Feinde hatte, sondern weil sie zu wenig Freunde hatte. Wehrhafte Demokratie muss gelebt werden und zwar von den Freunden der Demokratie, den guten Menschen. Wird die offene Gesellschaft nicht verteidigt, dann hilft ein Blick in die Geschichte was passieren kann. Und Welzer destilliert seine Forschungsergebnisse aus Jahrzehnten, wenn er vor der langsamen Veränderung der Gesellschaft warnt, die viele Menschen nicht einmal wahrnehmen und man sich plötzlich in einer Diktatur wiederfindet. Ich bringe das immer gerne auf die Hyperbel: Wer AfD wählt, wählt Auschwitz. Ist das überspitzt? Populistisch? Vielleicht. Aber es ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Welzer zeigt dies ebenso, ohne freilich so zu dramatisieren.
Was das Buch neben der Deutlichkeit so besonders macht, ist das Neun-Punkte-Programm das Welzer am Ende aufführt. Neun Punkte, die die offene Gesellschaft anzugehen hätte, um die wirklichen Probleme zu bekämpfen. Als ich vor 20 Jahren bei Harald Welzer studiert habe, war er noch weitaus distanzierter, über die Jahre ist er immer engagierter geworden, was in dem vorliegenden Büchlein kulminiert. Es würde mich nicht wundern, wenn er in Kürze einer Partei beitritt oder gleich eine eigene gründet. Allein das Neun-Punkte-Programm wäre es wert. Meine Stimme für die offene Gesellschaft und gegen die Menschenfeinde hätte er.
Unbedingt lesen!
Mehr Informationen inklusive Leseprobe direkt bei Fischer.
Harald Welzer
Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft.
Taschenbuch
128 Seiten
Verlag: FISCHER
Preis: 8,00 €
ISBN: 978-3-596-29915-7
Hier geht’s zur Initiative „Die offene Gesellschaft“.
„Wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja, ermutigt werden, also in einer offenen Gesellschaft. Sie wenn nötig zu verteidigen und sie jederzeit zu entwickeln, ist daher die erste Aufgabe.“
Ralf Dahrendorf
Mein Freund hat mir vor etwa einer Woche etwas erzählt. Er hat gelesen: empathische Menschen versuchen die Einheit der Gesellschaft durch Inklusion verschiedener Gruppen herzustellen. Unempathische Menschen versuchen eine Einheit durch Ausgrenzung „anderer“ zu erreichen.
Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich gehören zu den empathischen, und ich habe mir immer vorgestellt, man müsste doch die Mehrheit der Menschen vom Miteinader überzeugen können. Sicher haben sie sich nur noch nicht die entsprechenden Gedanken gemacht oder noch nicht die passenden Argumente gehört.
Wenn es aber von der grundsätzlichen Empathiefähigkeit abhängt, dann muss es viele Menschen geben, die man einfach nicht von der Idee der Einheit durch Ausgrenzung abbringen kann. Was heißt das für die Demokratie? Was heißt das im Moment für uns, wo diese Leute wieder so laut werden? Darüber denke ich seitdem nach.
Vielen Dank für diese hilfreiche Rezension. Und, nebenbei, das Blogdesign mit den Covern, die neugierig machen, ist ja richtig schön!
Liebe Andrea,
ich fürchte eine Demokratie muss damit leben, dass etwa 20 Prozent (so Welzer im obgen Buch) der Gesellschaft mehr oder weniger Menschenfeinde sind. Entscheidend ist, dass sich die 80 Prozent klar und deutlich positionieren und so die Inklusion zum herrschenden Prinzip machen.
Im Moment bin ich da ganz zuversichtlch. zumal die 20 Prozent ja auch deshalb so laut sind, weil sie wissen, dass sie eine Minderheit sind und sich durch die Hetze und Lautstärke lediglich den Anschein der Merhheit geben wollen.
Herzliche Grüße und vielen Dank!
Danke auch für die Antwort.
Das Buch kommt auf meine Leseliste. Zumal der Rezension folgend ja auch Anregungen zum Handeln darin sind, und da kann ich Hinweise gebrauchen.