Winternähe
In Deutschland gibt es keine Antisemiten mehr. Es ist nicht länger das Land der Täter, sondern jetzt ist es ein Land der Menschenrechtsverteidiger. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Nie wieder Auschwitz ist nicht länger der Schlachtruf vereinzelter Soziologen – jetzt ist es Staatsräson und Banner der Gerechtigkeit des vereinten Deutschlands. Mirna Funk gibt in ihrem Debütroman Winternähe einem der vermeintlichen Menschenrechtsaktivisten, der seine Aktivität allerdings vornehmlich auf Palästinenser beschränkt, eine Stimme: „[Israel] ist ein Apartheidstaat, und jeder, der etwas anderes behauptet, lügt. Wie können die Juden den Palästinensern nur ein solches Unrecht zufügen? Gerade sie sollten es ja besser wissen. Aber was da in Gaza und hinter der Mauer der Westbank passiert, ist nicht besser als Auschwitz.“
Mirna Funk erfindet hier nichts, es wird nicht einmal literarisch verdichtet. Diese Gespräche oder besser Monologe lassen sich immer und immer wieder hören. Es sind keine Monologe von ideologisch überzeugten Antisemiten. In ihrem Welt- und Selbstbild stehen sie nur für Gerechtigkeit ein. Und doch reproduzieren sie den alltäglichen Antisemitismus mit seinen klassischen Plattitüden und Ressentiments. Als wäre Auschwitz eine Lehranstalt gewesen aus denen die Juden, oder besser noch der Jude™ etwas zu lernen hätte.
Doch Toni, der die Rolle des Man-wird-ja-wohl-noch-sagen-Deutschen einnimmt, fährt fort: „Ich muss nicht dort gewesen sein, um das Unrecht zu beurteilen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Auch mit der Gehirnwäsche, der man uns Deutsche seit dem Ende des Krieges unterzieht. Immer müssen wir uns schuldig fühlen. Was habe ich denn damit zu tun, was mein Großvater getan hat? Nichts. Absolut gar nichts. Immer sind es die armen Juden, und man darf nichts gegen Israel sagen. Sofort ist das Antisemitismus. Dabei will ich doch nur ein Land von vielen kritisieren dürfen. Wieso bin ich da gleich Antisemit?“ Was wie der Wortschwall des besorgten Bürgers klingt, ist das Habitus gewordene Vorurteil der Mehrheitsgesellschaft. Antisemitismus verdeckt als Israelkritik™ oder Antizionismus ist in Deutschland wieder mehrheitsfähig geworden oder es wird zumindest von der Mehrheitsgesellschaft nicht widersprochen.
Mirna Funk muss sich nichts ausdenken, nichts ist übertrieben, nichts ist zu weit hergeholt. Nicht einmal der Richterspruch, mit dem Winternähe beginnt und bei dem der Protagonistin Lola das Jüdisch-sein abgesprochen wird. Bisher gab es kaum eine absurde wie abstruse Begründung, die ein deutsches Gericht nicht hervorgekramt hätte, um Vorwürfe des Antisemitismus ins Leere laufen zu lassen. Das Ganze kulminiert bei Funk in eine Abwandlung des Göring zugeschriebenen Zitats: „Wer bei mir Jude ist, bestimme ich!“ Da Lola keine jüdische Mutter hat, sondern „lediglich“ einen jüdischen Vater, wird wieder einmal von Deutschen bestimmt wer Jude ist: „Dann bist du ja gar keine Jüdin. Soweit ich weiß muss deine Mutter Jüdin sein,“ gibt Toni wissend – dem Gerichtsurteil vorgreifend – von sich. Diese Aberkennung der eigenen Identität, das Ausgeliefertsein an die Macht der Mehrheitsgesellschaft, stürzt die Protagonistin in einen Mahlstrom der Selbstfindung.
Bevor es jedoch besser wird, muss es erst noch schlimmer werden.
Mirna Funk schickt Lola durch die geballten Antisemitismen unserer Zeit. Mal ist es der Judenwitz, mal die spaßig gemeinte Vernichtungsphantasie, die launige Demütigung oder einfach nur der gut gemeinte Ratschlag – der Deutsche kennt sich damit aus. Funk macht vor nichts halt und ist nicht nur eine aufmerksame Beobachterin des „neuen Antisemitismus“, sondern webt immer wieder auch aktuelle Entwicklungen in die Handlung ein, z.B. die Montagsmahnwachen mit einem ihrer Stars „Ken Gaga Jebsen“. So ist der Roman nicht einfach nur eine Geschichte über die Identitätssuche einer Jüdin der dritten Generation in Deutschland nach dem Holocaust, sondern zugleich der Versuch über die unzähligen Vorurteile, Ressentiments und Stereotype – den alltäglichen Antisemitismus – aufzuklären.
Das gelingt Funk auch in wunderbarer Weise, indem sie die den dialektischen Stil des Talmuds aufgreift und die besondere Diskussionskultur adaptiert. So wird beiläufig das wichtigste und zugleich eliminatorischste Ressentiment widerlegt: das homogene Judentum. Es gibt nicht die Juden. Es gibt wie überall Rechte und Linke, Radikale und Liberale, Fundamentalisten und Säkulare, Menschenfeinde und Menschenfreunde, Militaristen und Pazifisten, Bellizisten und Humanisten, Liebende und Hassende. Mal sind es Lolas Gedanken, die diesen Diskurs mit sich selbst führen, mal ein (nie abgesendeter) Brief und schließlich begegnet Lola unterschiedlichen Personen, die alle mal mehr, mal weniger zum Gespräch von Juden mit Juden führen. Ein selbstbestimmter Diskurs ohne die Vormundschaft einer Mehrheitsgesellschaft.
Mirna Funk lässt Lola aus dem antisemitischen Deutschland nach Tel Aviv fliehen. Der nächste Schritt auf der Suche nach dem Wesenskern, den elementaren Bestandteilen des Ichs. Hier in Israel lebt noch ihr Großvater. Hier lebt auch ein möglicher weiterer Zufluchtsort: eine entstehende Liebe? Und auch in Israel entwickelt sich nicht nur die Ichfindung von Lola weiter, sondern auch die argumentative Aufbereitung der Israelkritik. Und das Mitten im Gazakrieg. Unter dem Iron Dome – dem Raketenabwehrschild Israels. Beständige Bedrohung macht etwas mit Menschen. Wird Lola dadurch vom Rightwinger zum Lefty? Nichts ist eindeutig in Israel. Nichts ist eindeutig bei Lola. Das Leben ist nicht eindeutig. Das Leben ist ambivalent, schwer verständlich und manchmal verrückt.
Apropos Liebe. Interessanterweise wird in Rezensionen und Kommentaren auf Lolas sexuelle Ausschweifungen kein oder kaum Bezug genommen. Dabei räumt Funk diesen doch einen recht großen Platz und Stellenwert ein. Auch hier spielt die Dialektik oder auch Ambivalenz eine zentrale Rolle. Anfangs dachte ich, es handele sich lediglich um typisch junge (fancy) Literatur, die immer auch irgendwie Sex und Porno thematisieren will, weil das angeblich auch ein bestimmendes Thema unter jungen Menschen sei (muss wohl son Berliner Ding sein). Tatsächlich weiß man aber, dass Promiskuität oder zumindest ein ausschweifendes Sexleben eine, wenn auch unproduktive, Methode ist mit Stress und sogar Traumata fertig zu werden – von Verarbeiten ist hier sicher nicht die Rede. Außerdem gelingt es Funk die Szenen zu beschreiben ohne ins Kitschige oder gar Peinliche abzurutschen.
Und immer, wenn man das kurze Gefühl bekommt „Das ist jetzt aber drüber“, muss man sich lediglich kurz daran erinnern, was die Protagonistin in ihrem Leben bereits alles erlebt hat. Es ist eine andere Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte jüdischer Erinnerungskultur. Das Trauma des Holocausts wird über Generationen tradiert. Viele Familien sind eben keine Großfamilien mehr – oder überhaupt noch so etwas wie Familie. Die Erinnerung an die Ermordung von 6 Millionen Juden wird sehr bewusst gelebt. Während in der deutschen Nachkriegsgesellschaft erst einmal Verdrängung, später Schuldverschiebung und aktuell Täter-Opfer-Umkehr betrieben werden, um sich nicht mit der eigenen (Familien)Geschichte ehrlich auseinandersetzen zu müssen, lebt der Holocaust, ob gewollt oder nicht, im Bewusstsein zahlreicher Juden, zumal der überlebenden Familien weiter. Wie geht man mit diesem Wissen um? Was bedeutet das Wissen vom Holocaust, von der Vergasung und Verbrennung der eigenen Familie für die individuelle wie kollektive Identität? Mirna Funk gelingt es, all diese Fragen und Gefühle aufzugreifen und zu bearbeiten. Wenn auch nicht immer zu beantworten – denn es kann auf viele dieser Fragen keine Antwort geben.
Insgesamt ist der Schreibstil von Mirna Funk grandios. Das Buch ist hochgradig emotional ohne trivial zu werden, es ist lehrreich ohne belehrend zu sein und es ist so schrecklich ehrlich und authentisch, dass man meint eine Autobiografie zu lesen. Dem hat Mirna Funk allerdings des Öfteren widersprochen. Der Großteil sei Fiktion – was natürlich nicht auf die antisemitischen Beispiele zutrifft. Diese sind teils von ihr selbst erlebt und teils einfach gut beobachtet. Wobei gerade zu Zeiten des Gazakrieges lediglich ein Blick in die Kommentarspalten oder die Nachrichten genügt haben dürfte. Genau genommen braucht es nicht einmal den Gazakrieg, es hätte gereicht, sich die Beschneidungsdebatte anzuschauen.
Mirna Funk gibt den Gefühlen zahlreicher Jüdinnen und Juden der dritten Generation eine Stimme. Ein sprachgewaltiges, emotionsgeladenes Debüt. Ein Mustread.
Mehr Informationen mit Leseprobe beim Fischer Verlag.
Mirna Funk
Winternähe
Roman
Hardcover
352 Seiten
S. FISCHER
Preis € 19,99
ISBN: 978-3-10-002419-0