Ich hinter der Maske. Meine Autobiographie
Das Märchen geht weiter. Leider bleibt es ein Märchen, denn über den Boxsport oder über Tyson Fury im Boxsport, erfährt man hier so gut wie nichts. Lediglich die Abschnitte über Familie und seine schwere psychische Erkrankung sind interessant und neu. Alles andere kann man weitaus besser und wahrhaftiger den verschiedenen Boxmagazinen entnehmen. Monatelang habe ich mich auf die Autobiografie von Tyson Fury gefreut. Seit Jahrzehnten bin ich großer Boxfan und, wenn man selber mal geboxt hat, dann lässt die Freude am Sport, trotz vieler Probleme im Umfeld des Boxens, nie nach. Man kann Tyson Fury, einen der amtierenden Schwergewichtsweltmeister, mögen oder auch nicht, aber zweifelsohne ist er ein herausragender Boxer. Mit einem ungewöhnlich schnellen Jab und seiner Leichtfüßigkeit ist er auch für Technikliebhaber eine echte Bereicherung im Schwergewicht.Kunstfigur Tyson Fury
Tyson Fury wirkt in Interviews und Medien meist bildungsfern und hochgradig religiös, er hat sich vermehrt rassistisch, antisemitisch, sexistisch und homophob geäußert, er neigt zu Verschwörungstheorien und ist Meister des Trashtalk. Damit bedient er natürlich eine bestimmte Klientel der Boxfans. Und wenn man Furys Beliebtheitswerte anschaut, dann stellen diese Fans ganz offensichtlich die Mehrheit. Das passt natürlich gut zum Zeitgeist. Beleidigen, abwerten, mobben, Feindschaften pflegen um sich seiner eigenen Identität und seinem eigenen Wert zu versichern. „Ich hinter der Maske“ lautet der Untertitel der Autobiografie des 32jährigen. Ist das alles nur eine Kunstfigur, die Tyson Fury da erschaffen hat, um zu entertainen?
Es gibt grandiose Boxer(auto)biografien. Allen voran natürlich so einiges über Cassius Clay aka Muhammed Ali oder über und von Mike Tyson. Aber Tyson Furys Autobiografie enttäuscht in so ziemlich allen Bereichen. Es ist eine weitgehend oberflächliche, deskriptive und von der Wahrheit immer ein ordentliches Stück entfernte Selbstbeweihräucherung. Selten hat man so eine narzisstische Autobiografie gelesen. Wer verbirgt sich nun also wirklich hinter der Maske. Ich mache es kurz: es ist ein bildungsferner (mit 10 Jahren die Schule verlassen), hochgradig religiöser (Gott will es), zu Verschwörungstheorien neigender (die Mächtigen im Hintergrund), weitestgehend unreflektierter Schwergewichtsboxer mit schweren psychischen Problemen. Genau genommen erfährt man als interessierter Leser sehr wenig, was man nicht schon aus den Medien oder zahlreichen (Youtube-Interviews) wissen konnte.
Tyson Fury, der Größte aller Zeiten
Den größten Teil des kurzen Buches nimmt die Beschreibung seiner wichtigsten Kämpfe ein. Dabei ist seine Beschreibung massiv geschönt, um nicht zu sagen falsch. Was ziemlich absurd ist, kann man doch all seien Kämpfe in aller Ruhe immer und immer wieder auf den bekannten Videoportalen anschauen. Doch sind es nicht nur die Kämpfe, auf die Fury eine sehr eigene Sicht hat. Seine zweijährige Dopingsperre findet gerade mal auf zwei Seiten statt und zwar ohne zu erwähnen, dass er überhaupt gesperrt wurde. Kein Wort zu seiner peinlichen Ausrede mit dem Wildschwein. Zufällig dauert seine schwere depressive Phase dann genau die zwei Jahre, die er gesperrt wurde. Von einer Autobiografie erwarte ich, dass man sich auch kritisch mit seinen eigenen Fehlern auseinandersetzt. Aber Tyson Fury hält sich im Boxsport für fehlerfrei, denn „Gott macht keine Fehler“ und so auch nicht sein Schützling Tyson Fury.
So gibt es durchaus massive und recht gut belegte Vorwürfe, dass der „Gypsy King“ während einiger wichtiger Kämpfe betrogen hat. Konkret lautet der Vorwurf, dass er seine Boxhandschuhe nicht regelkonform trägt und sich somit einen doppelten Vorteil verschafft. Zum einen verlängert er so seine Reichweite, um besser punkten zu können und zum zweiten kann er härter zuschlagen, da seine Faust nicht im dick gepolsterten Teil sitzt, sondern lediglich im vom dünnen Leder umhüllten unteren Teil. Verblüffenderweise wurde dies 2015 sogar von einem Ringrichter beanstandet (Kampf gegen Christian Hammer). Auch auf diese Vorwürfe geht Fury nicht ein.
Dafür erwähnt er die Binsenweisheit, dass im Boxsport viel betrogen wird und die wildesten Dinge versucht werden, um den Gegner im Vorfeld oder während eines Kampfes zu manipulieren. Diese Vorwürfe richtet er zum Beispiel in Richtung des Teams Klitschko. Aber bei ihm selbst ist natürlich immer alles mit rechten Dingen vor sich gegangen. Glaubwürdig geht anders.
Sportler und psychische Krankheiten
Wirklich gut ist die Autobiografie da, wo es um die Familie geht und um seine bipolare Störung. Er hat schwere Depressionen und Alkohol- und Drogenprobleme sowie Zwangsneurosen. Diese psychische Erkrankung kann tatsächlich so einiges im Verhalten von Fury erklären. Leider geht er zu keinem Zeitpunkt wirklich in die Tiefe. So verbleibt es auf der Ebene der Beschreibung einer Depression mit äußerst unangenehmen Auswirkungen auf ihn selbst und seien Familie. In diesem Rahmen liest man dann allerdings tatsächlich auch von einem empathischen Fury, der anderen Menschen mit psychischen Erkrankungen hilft und sie ermuntert zu kämpfen und nicht aufzugeben. Mit Abstand der beste Teil des Buches, ist es doch äußerst selten, dass Sportler und dazu auch noch weltberühmte Stars, über diese Art der Erkrankung sprechen. Angesichts der schrecklichen privaten Schicksalsschläge und der Ausgrenzungserfahrungen, die er als Angehöriger der Traveller machen musste, ist Furys psychische Erkrankung kaum verwunderlich. Die Psyche ist genauso verletzbar, wie der Körper. Äußerst beeindruckend, dass ein Kampfsportler hier so offen damit umgeht. Dafür gebührt Fury der allergrößte Respekt und es rettet auch die Bewertung des Buches.
Der Mann des Volkes
Dennoch will man in einer Boxerbiografie eben auch etwas über den Boxsport erfahren, was man nicht schon aus den gängigen Medien wusste. Und wenn es nur die minimale Selbsteinschätzung des Boxers selbst ist. Aber Tyson Fury ist eben kein Athlet, wie selber von sich sagt, kein echter Sportsman. Er ist eher der Klassenkasper mit Minderwertigkeitskomplex, der allen gefallen will und sich deswegen Übergroß aufbläht (was er, auch das muss man ihm hoch anrechnen, selbst zugibt).
Tyson Fury und seine Autobiografie passen in diese Zeit. Er hat wenig Interesse an der Wahrheit, sondern allem voran an Imagebuilding und Entertainment. Ihn interessieren die Einschaltquoten mehr als alles andere. Dafür läuft er in den USA auch mit der „Uncle-Sam-Robe“ wie in Rocky IV ein. Hauptsache bei den US-Fans anbiedern. Mit seinem unfairen, respektlosen Gehabe seinen Gegnern gegenüber, macht er dann allerdings genau das, was er kritisiert, nämlich Menschen fertigmachen, um sich selber zu erhören. Und gerechtfertigt wird es damit, dass das Geschäft ja so laufen würde. „The People‘s Champion“, wie die englische Times meint, ist vor allem ein opportunistischer Entertainer, der für Geld alles macht. Und dass das Entertainment mehr zählt, als der Sportsgeist, sieht man an der Masse der Furyfans, die jeden noch so unwürdigen Trashtalk oder sein Bullying abfeiern. Zusammen mit der penetranten Erwähnung, dass Gott für alles verantwortlich ist und ihn ja quasi zum Messias gemacht hat, sind drei Sterne schon eine gutgemeinte Bewertung für diesen PR-Coup. In 10 oder 15 Jahren werden wir vielleicht eine ernstzunehmende Biografie zu lesen bekommen. Verdient hätte es Tyson Fury, denn einer der größten Schwergewichtsboxer bleibt er natürlich trotzdem.
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Sachbuch
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12. Oktober 2020
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Elisabeth Schmalen
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978-3-453-60570-1
Die Maske wird nur kurz gelüftet. Tiefgehend ist da wenig.