cover hologrammatica
Science Fiction Roman:
Tom Hillenbrand
Preis:
12,- €

Rezension von:
Bewertung:
5
4. März 2018
Letzte Änderung:4. März 2018

Wahr ist, was wir sehen. Nur was, wenn doch nicht?

Hologrammatica

Wir nehmen die Welt durch unsere Sinne Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken und Riechen wahr. Wobei wir hochgradig visuelle Lebewesen sind. Wahr ist, was wir sehen. Zumindest galt dies lange Zeit, auch wenn es natürlich schon immer optische Illusionen gegeben hat. Nur mittlerweile sind Rechenleistungen von Computern so groß geworden, dass visuelle Veränderungen der Realität, zumindest im Film, ohne weiteres möglich sind. In den neuen Star Wars Filmen „erwachen“ so, seit Jahren tote, Schauspieler wieder zum Leben. Und der Unterschied zu den lebenden Kolleg*innen ist nicht zu erkennen. Es ist auch bereits möglich Videos so zu manipulieren, dass man jemanden etwas sagen lässt, was dieser nie gesagt hat. Das sind nicht nur technische Spielerein, sondern prinzipiell hat das das Potenzial, die Gesellschaft wie wir sie kennen, zu verändern, zu erschüttern oder gar umzuwälzen. Tom Hillenbrand greift das Grundprinzip dieser visuellen Manipulation in seinem neuen Science Fiction Thriller Hologrammatica auf und denkt es konsequent weiter. Herausgekommen ist ein Roman mit einem grandiosen Worldbuilding.

Ende dieses Jahrhunderts ist die optische Veränderung aus der digitalen Welt in die analoge Welt transzendiert. Hologramme sind nicht nur technisch möglich, sie sind zum Alltag geworden und nicht mehr von der Realität zu unterscheiden. Oder um es in der Wahrnehmung der Menschen des Jahres 2088 zu sagen: die Hologramme sind die Realität. Goethe schrieb 1819 „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“ Was eben auch bedeutet: was wir sehen, glauben wir bereits zu kennen und hinterfragen es nicht mehr. Was aber bedeutet das für eine Welt, in der fast alles, was die Menschen sehen aus digitalen Projektionen besteht? Eine Welt in der man sich, je nach finanziellen Möglichkeiten natürlich, jederzeit optisch verändern kann?

Illusionen und Identitäten

Galahad Singh ist ein Quästor, ein Privatdetektiv der darauf spezialisiert ist, verschwundene Menschen wiederzufinden. In der Regel sind das Menschen, die sich absetzen, um ein neues Leben irgendwo anders zu beginnen. Bereits mit seinem Protagonisten beschreitet Hillenbrand in Hologrammatica angenehm frische Wege. Singh ist eben kein weißer Mitteleuropäer oder US-Amerikaner, wie wir sie ansonsten in unzähligen Thrillern vorgesetzt bekommen, sondern ein Inder. Noch dazu ist es ein homosexueller Protagonist, der den offensichtlich unumstößlich gesetzten Sex in Thrillern und Krimis, überraschenderweise nicht peinlich werden lässt. Hier hat Hillenbrand im Vergleich zu Drohnenland erheblich dazu gelernt. Andererseits greift er vieles, was in seinem ebenfalls großartigen Vorgängerroman angelegt ist auf, und denkt es weiter. So zum Beispiel den Klimawandel. Wie bei Drohnenland ist auch bei Hologrammatica die Welt erheblich verändert. Viele Küstengebiete existieren nicht mehr, dafür gibt es aber viele neue Venedigs – nur das Original ist leider versunken. Der Klimawandel führt zu neuen Flüchtlingsströmen und zu neuen lokalen Paradiesen. Sibirien lockt, während die alte Welt versinkt, sich aber per Holonet den Anstrich der „ewigen Jugend“ verpasst.

In diesem Setting erhält Singh den vermeintlich gewöhnlichen Auftrag nach Juliette Perotte zu suchen, einer Computerexpertin, die an besonderen Codierungsverfahren gearbeitet hat. Denn 2088 ist es auch möglich, sein Bewusstsein in geklonte menschliche „Gefäße“ hochzuladen und dadurch jede körperliche Identität anzunehmen, die man möchte oder besser gesagt, die man sich leisten kann. Dass diese Transfers besonders gesichert sein müssen, erschließt sich von selbst. Daher ist der „Verlust“ einer solchen Expertin auch besonders brisant. Doch während Singh glaubt, lediglich nach einer vermissten Person zu suchen, entwickelt sich der Roman zu einem Thriller globalen Ausmaßes. Dass die Kriminalgeschichte, die sich nebenbei abspielt, dabei gar nicht mal so innovativ ist, merkt man kaum, denn die Welt, die sich Hillenbrand ausgedacht hat, nimmt die Leser*innen gefangen, so man sich denn auf das Setting überhaupt einlassen kann und will. Wer einfach nur einen neuen Kriminalroman lesen möchte, wird sicherlich weder mit der Story noch mit dem Setting glücklich sein. Wer Science Fiction, Dystopien oder Thriller mit Zukunftsszenarien mag, wird einen herausragenden Roman erhalten.

Schöne neue Welt – Hillenbrand erklimmt den Thron des Worldbuilding

Gemeinsam mit dem UN-Nachrichtendienst, dem UNANPAI (United Nations Agency for the Non-Proliferation of Artificial Intelligence), versucht Singh die unterschiedlich ineinander verwobenen Rätsel aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Illusion und Realität, aus Wahrheit und Lüge zu lösen. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass Hillenbrand ein Meister im Worldbuilding ist und zwar bis ins kleinste Detail hinein, was sich zum Beispiel am Firmennamen Arkenziel zeigt. Dieser geht auf das französische arc-en-ciel (Regenbogen) zurück. Nur weil die 11-jährige Tochter des Unternehmers den französischen Begriff deutsch aussprach, wurde der Konzern zu Arkenziel. Bämm. Respekt. Wer sich solche Detailtiefe einfallen lässt, liebt seine eigens geschaffene Welt. Und das merkt man Hologrammatica auch an. Manchmal wünschte man sich sogar, Hillenbrand würde diese großartige Welt nicht aufgeben, sondern in Folgeromanen vertiefen.

Hologrammatica ist nicht nur ein belletristischer Thriller und damit ausgezeichnete Unterhaltung. Hillenbrand überzeugt mittlerweile auch mit seinem Sprachstil, seinen sprachlichen Finessen und immer wieder fantastischen Formulierungen.

„Aber das Schlimmste sind die Berge. Es sind Berge des Wahnsinns, sie erdrücken alles andere. Diese dunklen Gipfel, dessen ist sie sich gewiss, sind die unumstrittenen Herrscher der Insel, eifersüchtige Regenten, die kein Leben zulassen.“

Großartig ist auch die Formulierung des „Komitees der Selbste“, das Gespräch mit sich selbst, die unterschiedlichen Perspektiven und Gefühle, die häufig im Widerspruch zueinander liegen und die Ambivalenzen menschlichen Empfindens und Verhaltens literarisch gekonnt einfangen.

Und Hillenbrand überzeugt mittlerweile nicht nur als Krimi-, Thriller- und Science Fiction-Autor, nicht nur als Meister des Worldbuilding, sondern auch als Gesellschaftskritiker. Natürlich immer im Rahmen des Settings. Es ist und bleibt ein Thriller, aber die Kritik an gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen ist wohldosiert und damit erreicht er ein größeres Publikum, als es rein gesellschaftskritische Werke vermögen.

Science Fiction Pflichtlektüre

Ich hatte Hillenbrand mit Daniel Suarez verglichen. Vergleiche sind für einen Autor immer etwas undankbar, andererseits bietet es sich bei diesen beiden Schriftstellern einfach an. Doch während ich Suarez das bessere Worldbuilding zugestanden hatte, hat Hillenbrand hier nun mächtig aufgeholt. Zwei Granden des Science Fiction. Jeder ein Vergnügen auf seine Art. Für mich ist Hillenbrand mit Drohnenland und nun mit Hologrammatica aufgestiegen, in die Liste der Autoren-Pflichtlektüre. Und da stehen nicht viele (lebende Autoren) drauf.

Noch ein Wort zur „Fachsprache“, eigentlich genauer die Alltagssprache der zukünftigen Gegenwart, die Hillenbrand entworfen hat. Viele Leser*innen scheint diese zu verwirren. Dem kann ich nicht folgen. Bereits in Drohnenland empfand ich das als sehr stimmig. Und als Sprachliebhaber wäre es doch auch eher seltsam, wenn sich mit der neuen Technik nicht auch neue Begriffe durchgesetzt hätten. Natürlich sind diese am Anfang unbekannt, aber man muss sich eben auf einen Roman auch komplett einlassen können, erst dann entfaltet er seine Wirkmächtigkeit. Und genau das geschieht bei Hologrammatica. Die neuen Worte entführen in eine unbekannte Zukunft. Was hätte William Gibson mit seiner Neuromancer-Trilogie nur getan, wenn er die Leser*innen mit neuen Begriffen nicht hätte „verwirren“ dürfen.

 

Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Kiepenheuer & Witsch.

 

Hologrammatica
Tom Hillenbrand
Taschenbuch
560 Seiten, Broschur
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: 12,- €
ISBN: 978-3-462-05149-0