Die verfluchte Kultur
Im Alltag verstehen wir unter Kultur meist nur noch so etwas wie Ästhetik und Kunst. Kulturelle Veranstaltungen sind dann so etwas wie der Besuch einer Philharmonie, eines Museums oder einer Oper. Oder der Begriff wird zu einem Allerweltsbegriff degradiert: Diskussionskultur, Esskultur, Fankultur usw. Dabei steht Kultur eigentlich ursprünglich als Gegensatz zu Natur. Die Natur ist das gegebene, vom Menschen nicht beeinflusste, also im Sinne der ursprünglichen nicht veränderten Natur. Kultur ist dementgegen alles das, was Menschen erschaffen und damit sind nicht nur Güter gemeint, sondern tatsächlich und vor allem die geistigen Leistungen wie Sprache, Religion, Moral, Wissenschaft, Musik, Ideologien. Und Menschen sind in der Regel überaus stolz auf ihre eigene Kultur, sie sie meist auch noch für eine überlegene Kultur halten. Einfach deswegen, weil sie ihre Kultur als normal wahrnehmen und andere als fremd. „Deutschland, das Land der Dichter und Denker“ ist so eine chauvinistische Selbstbeweihräucherung. Nun hat es in der Geschichte aber auch nicht an Kulturkritikern gemangelt. Also Menschen, die die spezifische Geistes- und Moralentwicklung ihres Landes, Europas oder des Westens kritisiert haben. Rousseau, Nietzsche, Freud, Marx, Adorno sind mit Sicherheit die Bekannteren. Dabei hat Theodor Lessing mit „Die verfluchte Kultur“ eine der herausragendsten Kulturkritiken aller Zeiten geschrieben.Der Mensch als Weltzerstörer
Der Untertitel von Theodor Lessings Brandschrift, heute würde man wohl Rant sagen, ist Leitidee: Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist. Hier ist Kultur nicht die großartige Leistung der Menschen, sondern der Widerspruch zum natürlichen Leben. Kultur als Zerstörung der Natur, als Widersacher des Lebens. Angesichts der Auswirkungen der Menschheit auf die Natur, und hier sei erst einmal die allgegenwärtige Klimaerwärmung genannt, ist Lessings Kampfschrift erschreckend aktuell. Und es wird noch erschütternder. Lessing hat seine Überlegungen bereits 1921 niedergeschrieben:
Vor 100 Jahren geschrieben und seit 200 Jahren kaum etwas dazu gelernt. Immer noch ist die größte kulturelle Leistung des Menschen der Kapitalismus, der alles und jeden zur Ware, zum Objekt, zum Tauschwert und Konsumgut macht. Wir vernichten Leben und unsere Lebensgrundlage gleich mit. Alles für Profit, Wohlstand, unermesslichen und unsinnigen Reichtum, für Dekadenz. Die Häuser du Autos werden immer größer, Obst und Gemüse aus der gesamten Welt müssen jederzeit im Discounter zur Verfügung stehen. Alles muss so billig wie möglich sein, damit auch die dritte Urlaubsflugreise im Jahr finanziert werden kann. 2019 wurden in Deutschland 55 Millionen Schweine geschlachtet. Das sind 150.000 Schweine pro Tag. Bei Hühnern wurde die unvorstellbare Menge von 620 Millionen Tieren getötet. 16 Millionen Enten, 3,4 Millionen Rinder. Lebewesen als Konsumgut. Weil es so gut schmeckt. Welche Kulturleistung soll das sein?
Das Ego und der Weltenbrand
Wir verwechseln Macht mit Wahrheit und Vernunft mit Sinn. Die Menschheit hat die Macht erlangt, die Welt umzugestalten und sie rationalisiert sich ihr Vorgehen als sei alles genau so richtig und wichtig so. Kohleabbau und Atomenergie müssen sein, weil wir sonst nicht genügend Strom zur Verfügung stellen können. Pflanzenschutzmittel müssen sein, weil wir sonst nicht alle ernähren können. Fleischkonsum muss sein, weil wir die tierischen Proteine zum Überleben brauchen. Krieg muss sein, um unsere Art zu Leben zu schützen. Kein Verbrechen an Mensch, Tier und Umwelt, dass wir nicht wegerklären könnten. Und wenn uns nichts mehr als Begründung einfällt, um unsere unerträgliche kognitive Dissonanz zu mindern, dann muss auch hier die Natur herhalten. Wir könnten halt nicht anders, es läge eben in der Natur des Menschen zu unterwerfen und auszubeuten.
Lessings interessantester und herausforderndster Gedankengang ist den hinduistischen (und buddhistischen) Ideen entlehnt:
Der Wille zur Unterwerfung
Was Lessing hier macht ist nicht weniger als der Angriff auf das komplette Selbstverständnis der denkenden Menschen. Die Abwehr dieses Gedankens wird das narzisstische Ich schon besorgen. Aber man sollte zumindest versuchen, das Dahinterliegende eine Weile zu erahnen. Beginnt der Untergang der Erde mit der Bewusstwerdung des Menschen? Sind wir das Übel? Und gibt es da überhaupt einen Ausweg? Ist die Geburtsstunde der Kultur, der Beginn des Dahinsiechens der Natur?
Das war vor 100 Jahren. Wo stehen wir jetzt?
Theodor Lessings „Die verfluchte Kultur“ ist eines der herausragendsten und zugleich erschütterndsten, zum Nachdenken und vor allem Nachempfinden anregenden Bücher, die ich gelesen habe. Dabei geht es nicht um explizite Erschütterung, sondern um die frappierende Gegenwart. Eine Brandschrift über das Versagen der Menschheit. Eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.
Direkt zum Verlag Matthes & Seitz Berlin.

Sachbuch - politisches Essay
Matthes & Seitz
1995 - Ursprünglich 1921
Softcover Klebebindung
88
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-verfluchte-kultur.html
12,80 €
978-3-88221-325-6

Eine Brandschrift über das Versagen der Menschheit. Eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.
Hallo
„Das Land der Dichter und Denker“, und damit direkt die implizierte Abgrenzung zu anderen Ländern…
Interessanterweise bin ich kürzlich erst in einem historischen Kriminalroman auf Grundlage des Falles Fritz Haarmann auf Theodor Lesson gestoßen, der im Verlaufe des Buches den ein oder anderen Gastauftriff hat. Mir war vorher nicht bewusst, dass Lessing selber über diesen Fall geschrieben hatte.
Mit seinen Überlegungen über das menschgemachte Artensterben war er seiner Zeit wirklich weit voraus. Es ist traurig und beschämend, wie sich der Mensch dagegen sträubt, aus seiner Geschichte zu lernen.
Seit einigen Jahren versuche ich, meinen ökologischen Fußabdruck klein zu halten. Soweit möglich, kaufe ich Obst und Gemüse nur aus Deutschland; Schweine, Hühner und Rinder stehen schon lange nicht mehr auf dem Speiseplan. Kein großes Auto, keine jährliche Flugreise, und so weiter.
Und ich bekomme immer wieder zu hören: Aber das bringt doch nichts. Ob du jetzt Fleisch isst oder nicht, das macht doch keinen Unterschied, einer alleine kann da gar nichts machen. Ich rede mir den Mund fusselig, sage immer wieder: es wird sich nie etwas ändern, wenn niemand bereit ist, den Anfang zu machen!
Es ist so bequem, sich dahinter zu verstecken und zu sagen: ich würde ja gerne, ABER. Dabei würde es schon helfen, erstmal ein paar Dinge zu ändern, ohne direkt das ganze Leben umzukrempeln.
Matthes & Seitz bringen immer wieder interessante Bücher, dieses hier muss ich auch direkt mal auf meine Merkliste setzen.
Danke für die interessante Rezension!
MfG,
Mikka
Liebe Mikka, dann sind wir schon mindestens zwei, die versuchen ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern und die kein Fleisch mehr essen. 🙂 Wir können vielleicht nicht die ganze Welt retten, aber wir können unsere kleine Welt ändern. Fast 40 Prozent des Umsatzes macht die Fleischfirma Rügenwalder mittlerweile mit ihren vegetarischen Produkten. Das zeigt, dass sich da etwas ändert. Und auch die Fridays-for-Future-Bewegung zeigt, dass es immer mehr Menschen und gerade junge Menschen gibt, denen das alles nicht mehr egal ist.
Es sind nur kleine Schritte, aber immerhin nicht Nichts.
Herzlichst
Sascha