Beyond Brexit
Wenn man in einer Stadt mit drei englischen Kasernen aufgewachsen ist, dann ist einem der Nordirlandkonflikt bereits sehr früh bewusstgeworden. Im Gegensatz zu Kasernen der Bundeswehr waren die englischen Anlagen immer schwerstens bewacht und gegen Terroranschläge geschützt. Und als ich Anfang der 1990er in London war, fielen unsere U-Bahnverbindungen aus, weil es eine Bombenwarnung der IRA gab. Für mich, damals Teenager, etwas völlig Irreales, für Engländer und Iren erschütternder Alltag. Lange Zeit war es dann, in den deutschen Medien, relativ ruhig um Nordirland und nur gelegentlich wurde über das kurze Aufflammen der Gewalt anlässlich irgendeines Marsches des Oranierordens berichtet. Im Zuge des Brexits geriet der Konflikt dann wieder in den Fokus, würde Irland doch eine Landgrenze zu einem Nicht-EU-Land haben, was die Debatte zwischen Nationalisten und Unionisten in Nordirland wieder anfachte. Siobhán Fenton hat mit „Beyond Brexit“, oder treffender im Original „The Good Friday Agreement“ ein herausragendes Sachbuch zum Nordirlandkonflikt geschrieben.Durchbrechen des herrschenden Narrativs
Fenton analysiert nicht nur die Auswirkungen des Brexits und für die deutsche Ausgabe mit einem neuen Kapitel die aktuellsten Geschehnisse, sondern bietet eine grundlegende Einführung in den Konflikt und ist somit für jede*n geeignet, unabhängig davon wieviel man bereits über den ehemaligen Bürgerkrieg weiß, der euphemistisch als „Troubles“ bezeichnet wird. Aber Fenton leistet noch mehr und das macht das Buch dann endgültig zu einem mustread für alle Interessierten. Wie so häufig ist die gewöhnliche Erzählung über gewalttätige Konflikte eine Erzählung aus männlicher Perspektive, häufig sogar aus der Perspektive der Täter, dann gerne Kombattanten genannt. Und ebenso häufig unterliegt diese Perspektive dann der Logik des Militärischen und dem Narrativ des vermeintlich Notwendigen. Die überwiegende Mehrheit der Täter ist männlich und die überwiegende Mehrheit der Opfer weiblich. Fenton rückt diesen Sachverhalt in den Mittelpunkt, darüber hinaus betrachtet sie auch (!) Opfer, die häufig vergessen oder verdeckt werden, weshalb Fenton Frauen und LGBTQIA+ besonders berücksichtig. Gerade das Leiden von Außenseiter*innen oder Machtschwächeren wird in kriegerischen Auseinandersetzungen häufig ignoriert. Es gäbe schließlich gerade Wichtigeres, als sich zum Beispiel um häusliche Gewalt zu kümmern. Dass dieser partnerschaftliche Terror allerdings oft dem gesellschaftlichen in Nichts nachsteht und diese sich sogar gegenseitig bedingen und steigern, ist eine weitere Erkenntnis, die Fentons Beyond Brexit so wertvoll macht.

Author: JEnnoE | CC by 2.0
1998 endete der Bürgerkrieg mit dem sogenannten Karfreitagsabkommen. Und obwohl es seitdem erhebliche Fortschritte in der Entwicklung Nordirlands gegeben hat, ist die Gesellschaft noch weit davon entfernt, in mit den Nachbarländern vergleichbaren Verhältnissen zu leben. Häufig wird der Konflikt als Religionskonflikt völlig fehl wahrgenommen. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass sich die verfeindeten Gruppierungen selbst als Protestanten und Katholiken bezeichnen. Aber wie so oft handelt es sich hierbei lediglich um Symbole mit einem viel tiefer gehenden Bedeutungsgehalt. Im Kern geht es eher um Nationalisten im Sinne einer gemeinsamen irischen unabhängigen Nation und Loyalisten oder Unionisten, die Nordirland als Teil Englands verstanden wissen wollen. Man hat es hier wie so häufig mit den späten Nachwirkungen des Imperialismus zu tun. Nachfahren schottischer und englischer Siedler betrachten Nordirland als britisch und die Nachfahren der „Ureinwohner“ sehen sich häufig als Minderheit in einem besetzten Nordirland.
Religionskonflikt?
Identitäten sind vielfältig und lassen sich nicht auf die Religionszugehörigkeit hinunterbrechen, auch wenn diese eine Rolle spielt und zu einem weiteren Distinktionsmerkmal geworden ist. Genauso gut ließe sich aber auch der Bürgerkrieg auf einen Klassenkonflikt reduzieren. Wurden die Iren von den Besatzern doch von wesentlichen Positionen und Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossen, so dass sich eine Spaltung der Gesellschaft auch anhand der Klassenunterschiede Arbeiter zu Mittelschicht ablesen ließe. So bekommen die irischen Nachfahren weitaus mehr Kinder als es bei den „Protestanten“ der Fall ist. Ein klassisches Merkmal bei Arbeiterfamilien und Mittelstandsfamilien. Es zeigt sich schnell, dass die vereinfachte Zuschreibung wiederum letztlich nur den verfeindeten Ideolog*innen in die Hand spielt. Die Differenzierungsleistungen und distanzierte Betrachtungsweise ist der größte Gewinn des Buches. Das Leiden beider Seiten in den Mittelpunkt zu stellen und nicht Position zu ergreifen, ist in Konflikten immer schwer, aber notwendig will man aus dem Teufelskreis der Gewalt ausbrechen.

Author: Robin Kirk | CC BY 2.0
Und die Gewalt ist in diesem ruhenden oder schwelenden Bürgerkrieg vielfältig und allgegenwärtig. Es sind nicht nur die offenen Terrorakte und die Morde. In Nordirland gibt es zusätzlich eine ganze Reihe von Autoaggressionen wie Selbstmorde, Selbstverletzungen aber auch psychische Reaktionen wie Angstzustände, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen, die weitaus häufiger als in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs oder Irlands auftreten. Gewalterfahrungen sind ein Transgenerationenproblem. Die traumatischen Erfahrungen der Eltern und Großeltern werden an die nächsten Generationen weitergegeben. Umso schwieriger wird es die Grenzen und Mauern aus den Köpfen der Menschen herauszubekommen. Wird doch jede neue Generation in die tradierten Feindschaften hineingeboren und nicht selten mit Hass auf das Andere sozialisiert. Auf Youtube finden sich einige Reprotagen des ÖR zu aktuellen politischen Entwicklungen die vor allem von jüngeren Menschen getragen werden. Der menschenverachtende Nationalismus der Involvierten ist erschütternd.
Gewaltkultur
Solange die Segregation fortbesteht, getrennt nicht nur durch meterhohe Wände und Zäune, sondern auch durch ein getrenntes Schulsystem, getrennte Straßen, getrennte Arbeitsplätze, getrennte Freizeiteinrichtungen wird sich auch in den Köpfen nichts ändern können. Ohne den direkten Austausch gewinnen die Ideolog*innen und Propagandist*innen. Auch von einer umfassenden Pazifizierung sind die verfeindeten Gruppierungen weit entfernt. Abgesehen davon, dass immer noch zahlreiche Waffen aus dem Bürgerkrieg in der Gesellschaft vorhanden sind, hat sich in Nordirland ein Bestrafungssystem innerhalb der klandestinen Gruppen und auch der Gesellschaft durchgesetzt. Für besondere Vergehen, erheben sich die Terrorist*innen zum Richter und Exekutor und zerschießen den Opfern die Kniescheiben. Immer wieder fühlt man sich beim Lesen an Faschismus erinnert. Auf beiden Seiten. Die Logik der Feindschaft und des Militärischen ist eben schnell eine faschistische Logik mit all ihrer Menschenverachtung.
Das englische Militär das einst zum Schutz beider Seiten gerufen wurde, hat sich schnell auf die Seite der Unionisten geschlagen und zusammen mit der Polizei die Repression auf eine neue Stufe gehoben. Folter und Liquidierungen stehen als Vorwürfe im Raum. Zum Terrorismus gesellt sich der Staatsterrorismus. Egal mit welchem Konflikt, welchem Krieg oder welchem Terror man sich beschäftigt, überall findet man die gleichen Dynamiken. Gewalt für zu Gewalt – und eskaliert. Es gibt keinen militanten Ausweg aus der Gewalt, weil die Fundamentalisten aller Couleur die Rachegelüste wecken und befeuern. Auch (Bürger-)Krieg ist ein Geschäft. Weshalb sich im Umfeld immer die organisierte Kriminalität findet. Nicht selten bis in die Parlamente. Und wie wir gerae auch in Deutschland sehen können, tummeln sich im Umfeld von Fundamentalisten und Extremisten auch gerne alle Sorten von konservativen Hardlinern, was die Spaltung der Gesellschaft nur mehr forciert.
Beyond Brexit – So muss Sachbuch
Nun ist Siobhán Fentons Beyond Brexit aber kein fatalistisches Resümee. Ganz im Gegenteil. Zu der gelassenen, hervorragenden Beschreibung und Analyse kommt eine grundsätzliche humanistische Perspektive, der schon immer auch die Philanthropie zu eigen war. Die Zustimmungswerte für die Menschenfeinde ist zwar immer noch mehrheitsfähig, aber die auf Versöhnung bedachten Perspektiven gewinnen an Einfluss. Langsam aber stetig. Einen wichtigen Beitrag liefert Feston selbst. Lest das Buch! Es ist mehr als nur ein Buch über Nordirland.
Besonderer Dank gilt Katrin Mrugalla, die das Werk übersetzt hat und die die Veröffentlichung in Deutschland überhaupt erst vorangetrieben hat. Und auch der Eire Verlag hat dieses Liebhaberinnen-Projekt unterstützt. Wieder einmal ein Beispiel dafür, dass wichtige Sachbücher nur in unabhängigen Verlagen veröffentlicht werden. Diese Vielfalt muss unbedingt aufrechterhalten und unterstützt werden!
Das Buch besteht zu einem großen Teil aus journalistischen Artikeln für verschiedene Zeitungen, die für das Buch aufbereitet wurden. Bei solch einer Zusammenstellung bleibt es nicht aus, dass es zu Redundanzen kommt, da jeder Zeitungsartikel für sich stehen können muss. In Buchform ist das dann manchmal etwas sehr repetitiv, hat aber auch den Vorteil, dass themenfremde Leser*innen einen leichteren Zugang bekommen. Bei der Aufmachung muss dann einfach der Entstehungszusammenhang berücksichtigt werden. Das Layout musste hier den Inhalten weichen. Ich denke, das sollte jede*r verkraften können.

Saschbuch
Eire Verlag
04.12.2020
Paperback
374
https://www.bod.de/buchshop/beyond-brexit-siobhan-fenton-9783943380668
Katrin Mrugalla
18,99 €
9783943380668

Ein herausragendes Sachbuch: differenzierte Analyse mit humanistischer Perspektive. Wer etwas über den Nordirlandkonflikt lernen will, auch aus feministisch und emanzipatorischer Perspektive muss dieses Buch lesen!