Froschperspektive
„Es war kein verdammter Selbstmord! Und falls doch, galt er nicht mir.“ Die ersten beiden Sätze in Seb Hofmanns Debütroman Froschperspektive sind ein fulminanter Einstieg, den man ruhig mehrmals lesen kann. Die volle Bedeutung wird sich allerdings erst im Laufe der Lektüre erschließen. Der in der Endphase der DDR geborene Ronny nimmt uns mit auf einen Höllenritt durch sein Leben, beginnend mit dem Aufwachsen in desolaten Familienverhältnissen über die Schulzeit bis hin zum Studium. Ronny ist die brutal authentische Manifestation von Karl Marxs Aphorismus: „Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Seb Hofmann hat mit Ronny eine Figur geschaffen, die den Leser*innen die gesellschaftlichen wie individuellen Konsequenzen des Scheiterns einer gesunden Sozialisation drastisch vor Augen führt.
Man kann Froschperspektive als Coming of Age Roman bzw. als klassischen Bildungsroman lesen. Das würde dem Roman aber nicht gerecht werden. Denn Seb Hofmanns Debüt geht weit darüber hinaus und ist geradezu eine psychologische und psychiatrische Fallstudie.
„Da hättest du nun beinahe keine Mami mehr gehabt. Aber du hast mich ja sowieso nicht lieb. Dir wäre es doch egal, wenn deine Mami verbrannt wäre“, bemerkt sie nur trocken.
Denn was geschieht mit Kindern, die in verwahrlosten Verhältnissen aufwachsen? Wie entwickeln sich Emotionen, Selbst- und Welterklärungen, wenn das Urvertrauen zerstört ist oder sich nie entwickeln konnte. Wie lebt es sich in einer Welt, die als feindliche Umgebung wahrgenommen wird? Wie passt man sich an etwas an, was man emotional überhaupt nicht versteht? Ronnys grandios geschriebene Binnenperspektive ist die eines Persönlichkeitsgestörten Jungen und jungen Erwachsenen. Die Ich-Perspektive eines sich entwickelnden misogynen Soziopathen. Das liegt ganz sicher nicht Jeder und Jedem. Und die Authentizität der Beschreibungen, mit all ihrer Obszönität und Gewalt, wird sicher einige Leser*innen abschrecken. Ähnliche Reaktionen gab es ja schon bei Lize Spits „Und es schmilzt“.
Demütigung und Traumatisierung
Die emotional anstrengende wie herausfordernde Weltsicht eines Persönlichkeitsgestörten, muss man schließlich auch erst einmal selbst verarbeiten können. Hofmann beschreibt detailliert die verzerrten und häufig irrigen Welterklärungen eines Kindes, Jugendlichen und später jungen Erwachsenen. Die emotionale Verwahrlosung hinterlässt nicht einfach nur Narben auf der Seele, sie verändert von Grund auf das Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Menschen. Eine der schlimmsten Akte emotionaler Gewalt ist die Demütigung. „Nichts zerstört so nachhaltig wie die Demütigung.“ Durch Demütigungen werden Kinderseelen (aber selbstverständlich auch Erwachsene) traumatisiert.
„Lieber mache ich auf trotzig, denn ich bin zu schwach, zu sein, der ich sein will, und nicht stark genug, zu sein, wer ich tatsächlich bin.“
So wird Ronny kurz vorm Übergang in die erste Klasse von der Kindergartenerzieherin, die mit „problembehafteten Sorgenkindern“ nicht umzugehen weiß, in ein Gitterbett gesperrt und mit einem fremden Schnuller ruhig gestellt. Alle anderen Kinder werden vor dem Bett aufgereiht. „Die Schaulustigen müssen mit dem Finger auf mich zeigen und gequält-herzlich lachen. Alles nur, weil ich zu früh vom Mittagstisch aufgestanden bin.“
„Demütigung ist die erzwungene Erniedrigung eines Menschen oder einer Gruppe, ein Prozess der Unterwerfung, der den Stolz, die Ehre, und Würde der Opfer verletzt oder vollständig raubt.“ Was vielleicht als pädagogische Maßnahme gedacht war und auch den kurzfristigen Erfolg des Ruhigstellens brachte, hat langfristige Konsequenzen. Nicht nur für Ronny, sondern auch für die Menschen mit denen er verkehren wird. Individuum und Gesellschaft wirken gegenseitig aufeinander ein.
Das Ich und der Frosch
Ronny kann seine Gefühle nur durch Gerd verbalisieren. Gerd ist der imaginäre Freund, der sich im Plüschfrosch, dem letzten Andenken an den Vater manifestiert. Und so spricht er immer wenn es um seine Bedürfnisse geht oder wenn irgendetwas ihn bewegt mit der kindlichen Plüschfrosch-Gerdstimme. Dabei verschwimmen zunehmend die Grenzen der Realität.
Dabei ist dies nicht nur eine kindliche Episode. Gerd bleibt der ständige Begleiter auch im Erwachsenenalter. Nicht unbedingt das adäquateste Sozialverhalten. Was natürlich Folgen hat.
Was passiert, wenn Empathie sich selbst und anderen gegenüber nie gelernt wurde, wenn die Gefühle abgestumpft sind, aber die elementaren menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Zuwendung und Zugehörigkeit immer noch nach Erfüllung streben?
Das Ich und das Es
Froschperspektive verlangt von seinen Leser*innen viel. Wer ambivalente Gefühle nicht aushalten kann, wer die eigenen Emotionen nicht hinterfragen möchte, wird mit diesem Roman keine Freude haben. Die Identifikation mit dem hilflosen und unschuldigen Kind Ronny wird schnell zur Herausforderung. Denn Ronny wandelt sich früh auch zum Täter.
Sigmund Freud hat in seiner Psychoanalyse ein Strukturmodell der Psyche entworfen, das sogenannte Drei-Instanzen-Modell. Demnach gibt es das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Ich ist in etwa das Bewusstsein, das Über-Ich ist weitestgehend das Gewissen und das Es ist das Unbewusste.
Hier sind vor allem unsere Triebe und Gefühle, verdrängte Anteile des Bewusstseins, Sexualität und Aggression beheimatet. Das Unbewusste ist nicht verbalisierungs- und reflexionsfähig ist aber dennoch, oder besser gerade deswegen, besonders wirkmächtig. Froschperspektive ist eine durchgehende Allegorie auf das Es. Der Plüschfrosch Gerd ist dabei natürlich naheliegend.
Aber nicht nur Gerd, sondern letztlich alle Personen, die im Roman eine Rolle spielen sind projizierte Anteile des Es. Was auch immer die Personen wirklich tun oder getan haben, wir wissen es als Leser*in nicht, denn wir kennen nur Ronnys Schilderungen. Und diese sind ein Konglomerat aus Wahrnehmung, Verzerrung, Wunsch- und Furchtbildern. Eine wahre Fundgrube für Psychologieinteressierte.
Sigmund Freuds „Wo Es war, soll Ich werden.“ ist die Programmatik, um unbewusste Anteile des Wahrnehmens, Denkens und Handelns bewusst und somit der Veränderung zugänglich zu machen. Nur leider läuft es bei Ronny, stellvertretend für viele andere Menschen, nur genau umgekehrt. Ronny schaltet sein Ich, sein Bewusstsein zunehmend ab. Immer mehr Drogen und Alkohol betäuben das Ich und lassen das Es von den Fesseln des Ichs und Über-Ichs. Die Katastrophe kann kommen.
Mit Vollgas gegen die Wand
Die Sprache von Froschperspektive ist ganz Ronny, schamlos, Menschen- und sich selbst verachtend, Frauen- und Realitätsfeindlich. Dass das nicht unbedingt breite Leserschichten anspricht, dürfte Seb Hofmann bewusst sein. Es ist ein radikales Debüt ohne jedoch einfach nur zu provozieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Romanen wo Sex, Gewalt oder Vulgärsprache nur eingesetzt werden, um zu schockieren und damit letztlich nur Werbung für das Produkt sein sollen, fügt sich bei Froschperspektive eins zum anderen. Zumal die Leser*innen Ronny von Kindheit an begleiten und mit ihm abgleiten.
„Wie ich einst bei Mutter ist Zuzanna sein getretener Hund, der die weggeworfene Liebe immer und immer wieder apportiert.“
Hofmanns Roman ist für mich die Überraschung 2018. Es finden sich zahlreiche grandiose Sätze, ein wahres Lesevergnügen. Hier ist die Sprache nicht nur das Vehikel, um die Geschichte zu transportieren, sie ist zugleich das Kunstwerk selbst. Man spürt beim Lesen geradezu, wie der Autor an den Sätzen gefeilt hat, was immer wieder zu herausragenden Formulierungen geführt hat.
Einziger Wermutstropfen ist das Finale, von dem hier selbstverständlich nicht die Rede sein soll. Es wirkt auf mich allerdings nicht kongruent zur restlichen Geschichte. Andererseits trifft auf Froschperspektive Nietzsches Aphorismus zu: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Die geneigte Leserin, der geneigte Leser möge sich nach dem Finale hieran erinnern.
„Mehr glauben als denken, halte ich für bedenklich, glaube ich, doch ich glaube zu viel und weiß zu wenig.“
So ist es eben auch nur ein Wermutstropfen, der den Gesamteindruck nicht im Geringsten zu mindern vermag.
Froschperspektive ist von Seb Hofmann im Selbstverlag erschienen. Mehr Informationen zum und vom Autor gibt es direkt auf seiner Website.
Froschperspektive
Seb Hofmann
Taschenbuch
233 Seiten
Selbstverlag
Preis: 9,99 €
ISBN: 9783961114597