Endurance
520 Tage im All. Da kann man sein autobiografisches Buch ruhig mal Endurance nennen. Scott Kelly war amerikanischer Astronaut und hält seitens der NASA den Rekord für die längste Zeit im All. Vor allem sein einjähriger Daueraufenthalt auf der ISS hat ihn bekannt gemacht. Dabei war Kelly an den ISS-Expeditionen 43 bis 46 beteiligt. Damit folgte er knapp auf Alexander Gerst und teilte drei Monate mit Samantha Cristoforetti, die beide ebenfalls Bücher über ihre Zeit auf der ISS geschrieben haben. Und wie Gerst und Cristoforetti hat auch Kelly zahlreiche Bilder aus dem All geschossen. Knapp eine halbe Million Fotos sind in dem Jahr zusammengekommen. Einige davon gibt es wie immer bei der NASA kostenfrei in Hochauflösung im Netz zu finden.
Der Traum echter Männer
Mit Scott Kelly schließe ich quasi meine Astronaut*innen Trilogie auch vorerst ab. Während Cristoforetti inhaltlich dermaßen begeisterte und Gerst mit einem durchaus lesenswerten Bildband aufwartete, bleibt Endurance von Scott Kelly weit hinter den beiden zurück. Immerhin gibt es bei Kelly viel mehr über die ISS und das Astronautendasein als bei Gerst zu erfahren und insofern lohnt sich Endurance für Raumfahrtbegeisterte trotz alledem. Aber leider hat sich Kelly entschieden nicht nur über seinen einjährigen Aufenthalt auf der ISS zu schreiben, sondern gleich sein ganzes Leben auszubreiten. Das mag an der ein oder anderen Stelle als Hintergrund ganz interessant sein, ist an vielen Stellen aber eher zum Fremdschämen geeignet. Die testosterongeschwängerten Geschichten eines militärbegeisterten Teenagers möchte ich einfach nicht lesen.

CC BY 2.0 | NASA | Scott Kelly im Außeneinsatz an der ISS
Damit aber leider nicht genug folgen zahlreiche Seiten und Geschichten über die harten Jungs der Navy und vermeintlich spannende Geschichten über die Ausbildung zum Kampf- und Testpiloten. Das erschütternde Bild, das Kelly hier vom Leben amerikanischer Kampfpiloten zeichnet, zeigt vor allem, dass die USA seit dem Vietnamkrieg nur wenig dazu gelernt haben. Junge Männer werden indoktriniert und werden bar jeder kritischen Selbstreflektion zum Werkzeug von Politik und Militär. Und damit das ganze funktioniert, bekommen die „Helden der Nation“ nationalistische und chauvinistische Dauerberieselung und werden in ihrem jugendlichen Allmachts- und Größenfantasien bestärkt.
Astronaut oder Untertan?
„In den 1990er-Jahren war man als Angehöriger einer F-14-Staffel so eine Art Zwischending von Berufssportler und Mitglied einer Rck’n’Roll-Band. Im Film Top Gun kommen die Arroganz und Aufschneiderei nicht wirklich zum Ausdruck.“ Wait. What? Und schon schildert Kelly, worum es wirklich geht: „Fliegen, kämpfen, ficken.“ Wobei mit Kämpfen Kneipenschlägereien mit Zivilisten gemeint waren. Und das Saufen nicht zu vergessen. Ständig wird erwähnt wie großartig manch Pilot und Astronaut doch Alkohol verträgt und andere unter den Tisch trinken kann. Und zwar schon mal so, dass „ich meinem nackten Kollegen in der Badewanne beim Erbrechen zur Hand gehen“ musste.

CC BY 2.0 | NASA | Scott Kellys Schlafzimmer, Wohnzimmer und einziger privater Rückzugraum
Viel mehr muss man dann auch nicht mehr über das Militär der USA wissen. Oder doch: „Aber Mannschaften und Offiziere müssen gehorchen, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle, denn das unverzügliche und bedingungslose Befolgen von Befehlen ist nicht nur das Herzblut von Armeen, sondern dient auch der Sicherheit des Staates; und die Lehre, dass unter irgendwelchen Umständen vorsätzlicher Ungehorsam gerechtfertigt sei, ist Verrat am Gemeinwesen.“ Schöner hätte man den faschistischen Befehlsnotstand oder den Kadavergehorsam nicht beschreiben können. Die Demokratie in den USA krankt nicht erst seit Trump. Dieses Ausspruch von Stonewall Jackson einem der größten Verbrecher des Bürgerkriegs der Vereinigten Staaten, Sklavereibefürworter und Vertreter der Taktik der verbrannten Erde prangt an einem Türbogen einer Militärschule Kellys und wird von diesem in Endurance klassenbewusst zitiert.
Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo hatte vor genau diesem Mechanismus unter anderem im US-Militär in seinem Buch „Der Luzifer-Effekt“ gewarnt. Frappant, dass Scott Kelly diese Szenen mit Stolz geschwellter Brust auch heute noch schildert.
Ungewolltes Plädoyer für die zivile Raumfahrt
Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass sich das im Laufe des Buches etwas nivelliert. Endurance braucht also auch der*die geneigte Leser*in. Mit Beginn der Astronautenausbildung und seinen Raumfahrten mit dem Space Shuttle und seinen Aufenthalten auf der ISS kommt das Buch dann endlich auf den Punkt, wird interessanter und Scott geradezu erwachsener, ohne jedoch gänzlich seine Militärattituden ablegen zu können. Dennoch merkt man, dass sich die Prioritäten verändern. Waren es vorher Männergeschichten und selbstwertsteigernde Erzählungen, beginnt mit dem Astronautendasein ein kooperativerer, internationalerer Blick zu entstehen. Wissenschaft rückt in den Vordergrund. Interesse für die Raumfahrt und damit für Technik und Bildung bei Kindern zu wecken, nimmt plötzlich einen wesentlichen Teil seiner Motivation ein. Und spätestens hier merkt man dann, dass Kelly das Herz doch am rechten Fleck hat.

CC BY 2.0 | NASA | Praktische Wissenschaft. Um für die Reise zum Mars gewappnet zu sein, werden Salate und später auch Tomaten oder Kartoffeln im Weltall kultiviert werden müssen.
Nichtsdestotrotz bleibt einfach ein riesiger Unterschied zwischen den Wissenschaftsastronauten und Militärastronauten. Man kann nur hoffen, dass künftig die Raumfahrt von ersteren dominiert wird. Alexander Gersts Erzählungen sind da um Welten angenehmer als das was Kelly schreibt. Überraschenderweise kommt Cristoforetti auch aus dem Militär. Aber hier scheint sich der Unterschied zwischen USA und Europa zu manifestieren.
Wissenschaft oder Fortschrittsglaube?
Scott Kelly dürfte nicht zuletzt deshalb für dien einjährige Mission auf der ISS ausgewählt worden sein, weil er einen Zwillingsbruder hat, der ebenfalls für die NASA als Astronaut arbeitet und somit die einzigartige Chance auf eine Zwillingsstudie bestand. Scott und Mark Kelly werden bis an ihr Lebensende untersucht werden und haben sich somit zu Versuchskaninchen der NASA gemacht. Es ist nicht zuletzt dieser Punkt, der bei Scott Kelly ein ums andere Mal daran denken lässt, dass die NASA mit Kelly einen nützlichen Idioten gefunden hat. Die Entbehrungen die Kelly und seine Angehörigen während seiner über 500 Tage im All aushalten mussten, sind nicht gerade etwas, wofür man reichlich Kandidat*innenauswahl hat.

CC BY 2.0 | NASA | Mark und Scott Kelly | Astronautenzwillinge
Am Ende steht für die NASA wie für viele Raumfahrtbegeisterte das unhinterfragbare Ziel der bemannten Raumfahrt zum Mars. Man scheint hier mit allen Mitteln im Zeitrahmen bleiben zu wollen. Koste es was es wolle. Die gleiche Einstellung hatte schon die Besatzungen von Columbia und Challenger das Leben gekostet.
Letztlich bleiben einige interessante Erkenntnisse über die Raumfahrt und die ISS. Wer sich nur ein Buch zu diesem Thema zulegen möchte, fährt mit Samantha Cristoforetti weitaus besser. Wer allerdings auch etwas über das Selbstverständnis amerikanischer Testpiloten, Militärs und Astronauten erfahren möchte, kann hier gerne zugreifen. Wer Fan von Scott Kelly ist, kommt um das Buch natürlich nicht drumherum.

CC BY 2.0 | NASA Scott Kelly
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Penguin Randomhouse.

Sachbuch
C.Bertelsmann
15. Oktober 2018
Hardcover | 16-seitiger farbiger Bildteil
480
https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Endurance/Scott-Kelly/C-Bertelsmann/e511840.rhd
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober
25,00 €
978-3-570-10329-6

Ambivalente und mäßig informative Autobiografie eines Astronauten.