Equilon
Jede*r kann es schaffen. Durch die eigene Hände Arbeit, durch Fleiß, Disziplin und Folgsamkeit kann jede*r reich werden. Oder zumindest zu den „Eine Milliarde“ gehören. Den Privilegierten. Dazu muss man nur den Score der Auserwählten erreichen. Dass es dabei gerecht zugeht, dafür sorgt ein unbestechlicher Algorithmus. Fast jegliches Handeln wird dabei bewertet. Wer nach New Valley will, der muss zusehen, dass Equilon, so der Name des Computerprogramms, einen beständig aufwertet. Nur die Besten der Besten haben überhaupt eine Chance. Das liegt schlichtweg an der Überbevölkerung und den vernichteten Ressourcen in der Nahen Zukunft, die uns Sarah Raich in ihrer zweiten Dystopie präsentiert. Während ein Großteil der Weltbevölkerung in Armut und unter den brutalen Bedingungen des kollabierten Klimas lebt, versucht die intelligenteste und sozialste, über den gesamten Globus verteilte, Bevölkerungsschicht in kleinen, geschützten Reservaten die Welt und die Menschheit zu retten.
Ich hatte das Glück Sarah Raich von Anbeginn ihrer, zumindest Buchveröffentlichungs-, Karriere verfolgen zu dürfen. „Dieses makellose Blau“ ist Raichs erste eigenständige Kurzgeschichtensammlung und für mich immer noch eines der sprachgewaltigsten und emotionalsten Bücher, welches ich je gelesen habe. Mit All that‘s left veröffentlichte sie dann ihr Debut. Eine an Jugendliche gerichtete Dystopie mit einer besonderen Protagonist*in. Und damit enden dann auch schon die Gemeinsamkeiten mit Equilon. Mir ist zwar nicht ganz klar, wie sie das innerhalb so kurzer Zeit geschafft hat, aber Raichs zweites Near-Future Drama ist eine fundamentale Verbesserung, ein Meilenstein in ihrer Karriere. War All that’s left noch recht gewöhnlich, sprudelt es in Equilon nur so von herausragenden Ideen. Auch die Geschichte in Gänze fesselt weitaus mehr.
Immersives Worldbuilding
Das Worldbuilding ist im Vergleich zum Erstlingswerk geradezu phänomenal. Manches wird im Detail beschrieben, anderes bleibt absichtlich vage. So gibt es neben dem Einzug ins New Valley auch noch andere Gratifikationen. So werden zahlreiche Menschen auf die lange Reise zur Besiedelung einer alternativen Erde geschickt. Gerade bei diesen Weltraumreisen, bleibt Raich exzellent unpräzise. Exzellent, weil es einerseits die Protagonist*innen auch nicht besser wissen und andererseits weil so weitere dystopische Interpretationen möglich sind. In die schöne neue Welt wird man nicht behutsam eingeführt, sondern man wird hineingeschleudert.
Das bedeutet vor allem, dass man am Anfang mit vielen neuen Begriffen konfrontiert wird, die den Menschen der Zukunft vollkommen geläufig sind, uns aber erst einmal kaum etwas sagen. Ähnlich konsequent habe ich dieses, die Leser*innen ins kalte Wasser werfen, zuletzt bei Tom Hillenbrands Drohnenland gelesen. Viele Rezensent*innen haben das Hillenbrand damals übelgenommen. Viele Leser*innen fühlten sich abgehängt und verwirrt. Dabei ist es viel eher Teil der immersiven Wirkung, des Sogs, den die Geschichte entwickelt. Von der ersten Seite an sind wir mittendrin. Die Zusammenhänge erschließen sich schon schnell genug. Dabei sind es nicht nur die großen, weltgesellschaftlichen Einfälle, sondern gerade auch die Kleinigkeiten, die die Welt von Equilon so glaubwürdig machen. Schon fast eine nahezu logische Erfindung ist zum Beispiel der „Distancer“, der sanfte Elektroschocks verteilt, wenn man jemandem zu nahe kommt und eine*n somit daran erinnert, dass es doch eine soziale Distanz gibt, die es bitte zu wahren gilt.
WTF
Was den Roman und die schriftstellerischen Fähigkeiten Raichs von anderen deutlich abhebt, ist die Einbeziehung des Banalen, des ansonsten häufig Unerwähnten, des Beiläufigen. Einfache Gedankenschnipsel, die die Erzählung überhaupt nicht voranbringen, die viel Autor*innen für nicht erwähnenswert halten würden, so sie die Idee überhaupt hätten. Aber genau so funktioniert Denken und unbewusstes Handeln. Es ist beliebig, abschweifend, hochgradig assoziativ, geradezu unvernünftig, manchmal nicht nachvollziehbar und immer emotional. Genau dieses Einweben macht den Roman aber so lebensecht, so immersiv und macht die Charaktere so wirklich.
Raich setzt in Equilon auch einige ausgezeichnete, geradezu geniale Plot Twists ein, korrekter müsste man aber vom „unzuverlässigen Erzählen“ schreiben, wobei es sich um filmneudeutsch Mind Fucks handelt. Diese sind zwar gut gesetzt und erzielen auch ihre Wirkung. Aber ich hätte mir mehr Mut gewünscht, um den Effekt noch zu verstärken. Denn einen „Soylent Green ist Menschenfleisch“-Moment vergisst man nie. Die überraschenden Wendungen bei Raich hätten also durchaus stärker ausfallen dürfen und sei es nur mit präziserer Beschreibung. Denn die Wirkung verpufft zu schnell, da die Handlung bereits wieder vorangetrieben wird. Aber zugegeben, das ist jetzt Klagen auf sehr hohem Niveau, denn für Dystopie-Beginner dürften die entsprechenden Szenen auch so schon reichen. Die anvisierten Leser*innen sind schließlich Jugendliche ab 14 Jahren.
Nicht jeder Turning-Point in Equilon kommt mit dem Schock-Effekt daher. Es gibt auch äußerst humorvolle Ideen, die Raich letztlich zu der außergewöhnlichen Autorin machen, die sie nun mal ist. Der Einfall mit den Beatles ist einfach genial, ohne hier mehr verraten zu wollen und erinnert in seiner Beliebigkeit an die Grundidee des Projektes Blue Eyed. Ein Film, den im Übrigen jede*r mal gesehen haben sollte. Insgesamt verzeiht man dann auch den arg konstruierten und schwächsten Punkt im Handlungsgerüst, der die Geschichte überhaupt erst am Leben hält, die kleine schwarze Box von Hannah. Und auch die unangenehme Formulierung des explodierenden neugeborenen Sterns. Was war da los Frau Raich?
Erkenne dich selbst!
Insgesamt hat Raich mit Equilon ein allegorisches Monster geschaffen. Und das meine ich im allerbersten Sinne. Ich fürchte nur, dass mäandert an der Zielgruppe weitestgehend vorbei. Anti-Held Dorian, unsportlich, kein Kämpfer und nicht besonders mutig, mag noch Identifikationspotenziale bieten, aber die Protagonistin Jenna, die hochintelligente, angepasste, strebsame und sich selbst belügende Schönheit, wird ihre Wirkung, so fürchte ich, verfehlen. Und das vor allem auch aus psychologischen Gründen. Jenna wirkt nervig naiv, trotz ihrer Intelligenz. Sie hat Fehler, die wir nicht mögen. Denn es sind unsere Fehler. Jenna sind wir.
Es geht nicht um nervig naiv, sondern um Selbstbetrug! Es geht um den eigenen Wohlstand, den eigenen Vorteil oder die eigene Sicherheit. Und wir alle sind nur allzu schnell bereit Erklärungen zu akzeptieren oder Wegzusehen, damit wir uns mit der Wahrheit nicht auseinandersetzen müssen. Wahr ist, woran wir glauben (wollen). In der Sozialpsychologie nennt man so etwas selbstwertdienliche Verzerrung oder auch Bestätigungsfehler. Und was wir überhaupt nicht mögen, ist, wenn uns jemand den Spiegel vor die Nase hält, um uns unsere schrecklichsten Seiten zu zeigen. Dann werten wir nämlich lieber die Protagonistin, das Buch und die Autorin ab, als uns selbst zu hinterfragen.
Alles was wir bei Sarah Raich lesen, ist nicht irgendwann in der Zukunft. Nichts davon ist weit hergeholt. Wenn überhaupt ist es eine Hyperbel, aber eigentlich ist es eine Zustandsbeschreibung. Wir mögen die Beatles.
Soundtrack of my Book
Equilon hat sogar seinen eigenen Soundtrack, der auf Spotify zusammengestellt ist und per im Buch abgedruckten QR-Code abrufbar ist. Wäre Raich nicht Autorin geworden, wäre sie wohl Musikerin. Ich mag es auch wenn Autor*innen mit popkulturellen Verweisen arbeiten. Werden Bücher, Filme oder Songs aufgeführt, schaue ich immer nach, um was es sich handelt. Und des Öfteren bin ich dadurch auf absolute Schmuckstücke gestoßen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Raich übertreibt es allerdings etwas bei Equilon. Es gibt zu viele aufgeführte Lieder, die zwar durchaus gut und passend sind (vielen Dank für Christian Löffler), aber sich nicht logisch in die Geschichte einfügen. Dass die Protagonist*innen auch mal ein hundert Jahre altes Lied kennen. Klar, warum nicht. Aber dass sie gleich zahlreiche Lieder aus dem vergangenen Jahrhundert kennen, scheint doch etwas zu viel des Guten. Dafür sind die Literaturverweise wiederum wunderbar. Und bei Herr der Ringe scheint es auch sinnvoll.
Leider gibt es am Ende auch noch eine Kleinigkeit zu bemängeln. Das Lektorat hat an der ein oder anderen Stelle geschlafen. So holpert es gewaltig mit gewohnt und gewöhnt. Und auch wichtige Ideenschnipsel sind untergegangen und wurden nicht weiterverfolgt. Was für ein Potenzial hätte noch in den Eltern gesteckt. Schade.
Aber insgesamt und das sollte deutlich geworden sein, ist Equilon herausragende Jugendliteratur für Erwachsene. Großartig!
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei dtv.

Dystopie
dtv
16.02.2023
Taschenbuch
400
https://www.dtv.de/buch/equilon-44185
16,00 €
978-3-423-74088-3

Herausragende Dystopie. Grandiose Jugendliteratur für Erwachsene.