Dieses makellose Blau
Heute ist Indiebookday und nachdem ich schon zwei großartige Bücher aus dem Verbrecher Verlag und dem homunculus Verlag vorgestellt habe, folgt heute der kleine Berliner Verlag mikrotext. Ein Verlag „für Texte mit Haltung und für neue Narrative“. Und nachdem ich Sarah Raichs „Dieses makellose Blau“ gelesen habe, möchte ich hinzufügen: ein Verlag mit dem Gespür für das Besondere und Außergewöhnliche. Denn Sarah Raichs Kurzgeschichten sind Ausschnitte aus großen Dramen. Mit dem Brennglas der Verzweiflung wird auf einen Augenblick des Alltags fokussiert und mit überwältigender sprachlicher Präzision und Akribie werden kleine Universen der Trostlosigkeit konstruiert.Leben heißt Leiden
Sarah Raich gibt sich dabei nicht mit Kleinigkeiten ab, hier werden die ganz großen Emotionen affiziert. Und das Beeindruckendste daran ist, wie schnell Raich die Leser*innen in die Abgründe des menschlichen Miteinanders zieht. Wenige Worte reichen aus und die Tentakel des Kraken Schicksal, reißen einen in die Tiefe. Tod und Leid in seinen unzähligen Ausprägungen bestimmen häufig die Szenerie.
Nur ein Satz. Der erste Satz, der titelgebenden Geschichte.
51 Wörter und jede Hoffnung auf ein glückliches Ende sind zerstört. Das ist keine Wohlfühl-Literatur, das ist der Vorschlaghammer der emotionalen Wucht, der nur Verwüstung zurücklässt. Und dieser Vorschlaghammer wird zwar sprachlich von Raich geschwungen, doch letztlich sind es die Menschen, die sich gegenseitig Leid zufügen. Oder um es mit Karl Marx zu sagen: „Es zeigt sich hier, daß die Individuen allerdings einander machen, physisch und geistig.“ Und ein minimaler Ausschnitt dieses gegenseitigen Machens und was das für die menschliche Psyche bedeutet, zeigt Raich in jeder Ihrer Geschichten auf.
Thug Wife
Dabei wird kaum etwas expliziert, das Wesentliche ist implizit, harrt der Deutungen und Assoziationen der Leser*innen. Mag gut sein, dass nicht alle die gleichen Geschichten lesen. Vieles bleibt rätselhaft, unbewusst und ungewusst. Ganz wie das Leben selbst. An manchen Stellen ist es schon fast zu vage, so dass die Identifizierung leidet. Das Spiel mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen ist eben ein Balanceakt. Man liest Sarah Raichs Kurzgeschichten am besten nicht mal so nebenbei oder wenn man gerade etwas Unterhaltung möchte. Dieses makellose Blau ist nicht das „schöner-Sommertag-Himmelblau“, sondern eher das aufdringliche Blau depressiver Episoden.
Der Subtext könnte auch hier Empowerment sein. Sehr subtil, unaufdringlich und nicht über die Inhalte, sondern über die emotionale Wirkung der verdeckten Hintergründe transportiert. „The hate u give“ prophezeite einst Tupac in Bezug auf Kinder. Hier kann man die Auswirkungen auf Frauen lesen. Was macht der Hass mit einem. Ständig will man wissen: Was ist da passiert? Was hat hierher geführt? Wie konnte es soweit kommen? Und nie gibt uns Raich eine Antwort. Oder anders: Das Alltägliche braucht keine besonderen Antworten, wir müssen nur die Augen aufmachen. So schrecklich manche (implizite) Geschichten auch sein mögen, letztlich verdichten sie nichts anders, als das was ständig und überall passiert. Sarah Raich beweist sich so nicht nur als herausragende Schriftstellerin mit einem Hang zur perfekten Sprachkonstruktion, sondern auch als ausgezeichnete Beobachterin.
Wer auf der Suche nach tiefsinnigen Texten ist, wer Sprache liebt, wer den Blick in den (eigenen) Abgrund nicht scheut und wer eine schriftstellerische Karriere von Anbeginn an begleiten möchte, sollte jetzt unbedingt beim mikrotext Verlag „Dieses makellose Blau“ bestellen.
Eins allerdings nehme ich Sarah Raich Übel, dass ich nie wieder unbedarft den Begriff Fellnase benutzen kann.
Dieses makellose Blau direkt bei mikrotext bestellen.

Kurzgeschichten
mikrotext
8. März 2021
Taschenbuch
120
https://mikrotext.de/book/sarah-raich-dieses-makellose-blau-geschichten/
14,99 €
978-3-948631-08-6

Universen der Trostlosigkeit. Selten wurden Verzweiflung und emotionale Verwüstung so fesselnd beschrieben.