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All that’s left

Vor einem knappen halben Jahr habe ich hier Sarah Raichs Kurzgeschichtensammlung „Dieses makellose Blau“ vorgestellt. Ein nachhaltig beeindruckendes und unbedingt lesenswertes Buch. Dementsprechend war ich auf das Romandebüt von Sarah Raich gespannt. Als ich das erste Mal davon hörte, dass „All that’s left“ eine Dystopie werden soll, war ich doch etwas überrascht. Dieses makellose Blau besticht mit einem brutalen Realismus. Wie verträgt sich das mit einem Genre, dass qua Definition immer phantastisch ist?

Dystopien und Endzeitszenarien zählen seit frühester Jugend zu meinen Lieblingsgenres. Das macht meinen Skeptizismus gegenüber dystopischer Literatur allerdings eher größer. Die Geschichten ähneln sich einfach mittlerweile zu sehr. Echte innovative Gedanken kommen kaum noch vor, sondern viel eher unzählige Variationen des Immergleichen. Man denke nur an das Sub-Genre der Zombie-Apokalypse. Da gibt es seit Romero kaum neue Ideen. Oder apokalyptische Romane, die lediglich die Ursache des Weltuntergangs variieren. Hinzu kommt, dass Dystopien und Endzeitromane in den letzten Jahren boomen. Kein Wunder, wachsen doch alle jüngeren Generationen mit dem Wissen um das Weltenende Klimawandel auf. Seit eineinhalb Jahren verändert nun noch eine relativ harmlose Pandemie die Welt. Was wäre eigentlich bei einem wirklich letalen Virus los? Eine ähnlich fatalistische Stimmung dürfte zuletzt in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts geherrscht haben, als alle dachten die Militaristen dieser Erde würden die Welt in kürze im nuklearen Holocaust vernichten (so hieß das damals wirklich).

Der gewöhnliche Weltuntergang

In Anbetracht ähnlicher Romane der letzten Jahre, wie Nina Casements Wildcard oder C.A. Fletchers  Ein junge, sein Hund und das Ende der Welt stellt sich unwillkürlich die Frage, ob es sich lohnt Sarah Raichs „All that’s left“ zu lesen. Und hier kann ich nur mit Radio Eriwan antworten: „Im Prinzip ja, aber…“ Es kommt eben ganz auf die Erwartungen an. Für junge Leser*innen, die noch nicht alle Dystopien hoch und runter gelesen haben, ist der Debütroman quasi eine Pflichtlektüre. Endzeitjunkies werden allerdings was das Worldbuilding, Plotten oder innovative Szenen angeht, nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen. Das Grundsetting ist nämlich so stereotyp wie es das Genre eben vorgibt. Die Klimakatastrophe hat die Zivilisation zusammenbrechen lassen. 2059 ist die Erde kaum noch bewohnbar. Brutale Hitze, unerbittliche Wüsten, vernichtende Stürme, tödliche Bakterien und Viren haben die Menschheit auf ein Minimum reduziert. Einige Wenige haben überlebt, so wie die 15-jährige Mariana, deren Vater in weiser Voraussicht einen weitestgehend autarken Bunker gebaut hat. Natürlich kommt es, wie es kommen muss. Mariana verlässt den Schutzbunker und begibt sich auf einen „Roadtrip“ auf der Suche nach anderen Überlebenden.

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Das klingt leider allzu bekannt. Auch wenn es im Detail bei Raich selbstverständlich Variationen gibt. Hinzu kommen dann aber noch wenig überraschend meist feindlich gesinnte Andere und eine an Mad Max erinnernde archaische Gewaltkultur. Stereotyper Fatalismus zwischen zwei Buchdeckeln. Wie gesagt, wer neu im Genre ist, den wird das nicht weiter stören. Und da die Zielgruppe explizit im Umfeld der FFF-Bewegung zu verorten ist, werden die jüngeren Leser*innen vermutlich auch noch nicht allzu sehr vorgeprägt sein. Das klingt jetzt so, als bräuchte man Sarah Raichs Debüt gar nicht lesen, zumindest wenn man älter als 25 ist oder Genre-Liebhaber*in. Das ist eine Fehlannahme, denn All that’s left hat seine Qualitäten ganz woanders.

Die ganz außergewöhnlichen Emotionen

Es ist nicht der mehr oder weniger vorhersehbare Verlauf, der recht gewöhnliche Spannungsbogen oder die üblichen Wendungen. Der Roman wartet mit zwei ganz anderen Höhepunkten auf. Wie bei Raich zu hoffen war, ist auch hier wieder die Sprache ein Genuss. Die Autorin schreibt nicht einfach einen Roman, sondern sie komponiert geradezu Absätze. Wie schon bei ihren Kurzgeschichten hat Raich das außergewöhnliche Talent mit wenigen Sätzen Stimmungen und Emotionen zu transportieren. Denn auch wenn eigentlich alles bekannt und weitestgehend vorhersehbar verläuft, werden die Leser*innen durch die Sprache in die Geschichte gezogen. Es ist ein klein wenig wie bei Herr der Ringe. Man weiß, dass das doof ist, da lang zu gehen. Man weiß, was passieren wird. Aber man liest völlig gespannt weiter. Und bei Raich kommt hinzu, dass mich ein, zwei Stellen doch hart emotional getroffen haben. Wie gesagt, obwohl mir klar war, was kommt.

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Herausragend sind die Gefühlswelt und die Wahrnehmung der Protagonistin gelungen. Und das ist der zweite Höhepunkt des Romans. Entgegen vielen anderen Endzeitszenarien schickt Raich ein 15-jähriges Mädchen auf den No-Roadtrip. Das ist mittlerweile natürlich (zum Glück) kein Alleinstellungsmerkmal mehr, aber es fehlt vergleichsweise immer noch an Heldinnen oder wenigstens weiblichen Vorbildern und Identifikationsfiguren. Meistens sind es dann doch irgendwelche Haudegen, die sich mit Gewalt durch die Apokalypse prügeln. Da verändert sich endlich Vieles. Haudrauf hat uns jedenfalls nicht weitergebracht. Weder gesellschaftlich noch literarisch. Die Gedanken, Gefühle und Selbstgespräche von Mariana sind teilweise ganz große Kunst. Allein dafür lohnt es sich das Buch zu lesen.

Auch All that’s left kann wieder als Selbstermächtigung gelesen werden, wie schon zuvor Dieses makellose Blau. Dieses Mal ist es nicht nur die Selbstermächtigung von Frauen und Mädchen, sondern einer ganzen Generation. Literarisch die ‚Generation Weltuntergang‘ übertragen natürlich die ‚Generation FFF‘. Geschichte wird gemacht. Also muss ins Handeln gekommen werden. Auch dazu trägt Raich bei.

Wir sind die Toten

Ein richtiges Gedicht, das sagt Sachen halb und tausendfach zugleich. Das schmeißt dir so viele Bilder in den Kopf, dass du erst mal zwei Tage nachdenken musst und sortierst. Und dazu kommt die Melodie. Denn ein Gedicht ist ja auch ein bisschen ein Lied ohne Noten. Wenn der Rhythmus ganz durch dich hindurchwalzt und dich mitzieht mit jeder Silbe.

Musik spielt im Buch eine besondere Rolle. Es ist wohl nicht zu weit hergeholt den Titel als von der amerikanischen Punkband Thrice inspiriert zu betrachten, die ebenfalls ein Lied „All that’s left“ herausgebracht haben. Dort heißt es: „Wir sind die Toten. Können wir gerettet werden?“ Es ist diese Art der Sprachspielerei, der Allegorien, der mal direkten, mal indirekten Beschreibungen und Assoziationen, der versteckten Hinweise, die das Debüt für Sprachliebhaber zu einem Vergnügen machen. Wenn man das so schreiben darf, angesichts des dramatischen, teils verstörenden und immer berührenden Inhalts.

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Auch wenn Raich nicht anklagt, so steckt doch die Kritik im (verborgenen) Detail. Wir sind die Toten. Wir haben den Wagen sehenden Auges gegen die Wand gefahren. Können wir überhaupt noch gerettet werden? Kann die Menschheit überleben? Große Fragen, die im kleinen eine Antwort finden können. Und hier liegt das Fundament, weshalb ich Sarah Raichs Roman ein großes Publikum wünsche. Während die Gesellschaftskritik angenehm zurückhaltend, bzw. nur sekundär daherkommt, wendet sie das gewöhnliche Narrativ und erzählt eine Geschichte der Hoffnung mit einer weiblichen Protagonistin. Ein gewöhnliches Mädchen ergreift die geringsten Chancen, nicht mehr und nicht weniger. Keine Heldin, keine einfachen Lösungen. Alles bleibt kompliziert, alles bleibt ambivalent. Und alle machen Fehler. Aber genau das ist der Hebel, um ins Handeln zu kommen. Geschichte wird gemacht.

 

Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Piper.

 

All that's left Book Cover All that's left
Sarah Raich
Dystopie
Piper
29.07.2021
Klappenbroschur
336
https://www.piper.de/buecher/all-thats-left-isbn-978-3-492-70607-0
16,00 €
978-3-492-70607-0