Picknick am Wegesrand
Ich habe den Film Stalker des sowjetischen Regisseurs Andrei Tarkowski das erste mal vor etwa 15 Jahren gesehen. Für mich war es eine cineastische Offenbarung. Ähnlich wirkten nur Koyaanisqatsi, Apocalypse Now Redux oder weniger künstlerisch dafür inhaltlich überraschendere und innovative Science Fiction Filme wie Contact, Brazil, Akira, Alien oder Event Horizon. Stalker ist jedoch ein Film der aufzeigt, warum diese Kunstform zur Literatur gezählt wird. Das Drehbuch zum Film wurde von den Brüdern Arkadi und Boris Strugatzki geschrieben und unter dem Namen Die Wunschmaschine veröffentlicht. Dabei beruht das Drehbuch wiederum lose auf dem Roman der Brüder Picknick am Wegesrand. Und da mich der Film nachhaltig begeistert hat, war es an der Zeit auch die Romanvorlage zu lesen.
Picknick am Wegesrand ist ein Science Fiction Klassiker, der sich genretypischen Erwartungen, Klischees und Szenarien widersetzt. Zwar gab es vermutlich einen Besuch außerirdischer Intelligenz auf der Erde, aber so richtig geklärt, ist selbst diese Grundannahme nicht. Unzweifelhaft ist lediglich, dass es sechs Zonen auf der Erde gibt. In diesen Zonen funktionieren die physikalischen Grundgesetze nicht mehr ausnahmslos. Und es befinden sich dort unzählige Artefakte, deren Funktionsweise sich niemand erklären kann. Und manchmal wird nicht einmal verstanden wozu die Gegenstände überhaupt gut sind. Nur eines steht fest: Mit den Artefakten lässt sich Geld verdienen. Wissenschaftler, das Militär aber auch Privatleute sind an den außerirdischen Gegenständen interessiert. Entsprechend entsteht eine neue Generation von Schatzjägern: Stalker.
Die neuen Schatzgräber
Die Vereinten Nationen errichten um die Zonen einen militärischen Sperrbezirk, so dass niemand herein und heraus kommt. Damit soll einerseits ein Handel mit Artefakten unterbunden werden, andererseits lauern in der Zone aber auch tödliche Gefahren, wovor Leichtsinnige oder Abenteurer geschützt werden sollen. So die Idee. Selbstverständlich finden die Stalker einen Zugang zur Zone. Zumindest zu einigen Zonen. Andere Zonen sollen wohl effektiver abgeschirmt worden sein, als die Zone bei Harmont, dem Ort des Romangeschehens. Der Schwarzmarkt boomt und die Stalker verdienen gut.
Picknick am Wegesrand ist eingeteilt in mehrere Abschnitte bei denen wir dem Stalker Roderic Schuchart folgen. Beginnend mit dem jungen 23-jährigen Rotschopf und endend mit dem 31-jährigen Schatzgräber (so die wenig gelungene Übersetzung von Stalker ins deutsche). Die Erzählweise folgt dem Erleben von Red, so dass der Leser auch nicht mehr über die Zone weiß, als es eben ein Stalker selber weiß. Die ersten Stalker rekrutierten sich aus der Arbeiterschaft der Anwohner der Zonen. Bevor die Abenteurer aus aller Herren Länder in die Zonen strebten und starben. Entsprechend rau sind Umgangston- und formen. Gute Science Fiction war schon immer Gesellschaftskritik am Gegenwärtigen. Und Boris und Arkadi Strugatzki sind Meister ihres Faches.
Mysterium Zone
Die Geschichte von Red wird eingeleitet durch ein „Interview“ mit dem Physiknobelpreisträger Valentin Pillmann. Im Laufe des Buches wird ein Kapitel eingeschoben in dem dieser Pillmann wiederum eine zentrale Rolle spielt. In beiden Fällen dienen die Gespräche mit dem Doktor dazu, den Lesern die Zone näher zu erklären. Dabei geht der Kenntnisstand der Wissenschaft kaum über die Folklore hinaus. Pillmann liefert dann auch eine mögliche Erklärung für die Zonen. Möglicherweise hätten hier Außerirdische lediglich während ihrer langen Reise ein Picknick am Wegesrand eingelegt. Und die Artefakte sind schlichtweg der liegengebliebene Unrat. Weshalb viele Artefakte auch keine Funktion haben.
Was es mit den Zonen auf sich hat, ist Teil der Spannung des Romans. Die Brüder Strugatzki sprengen die Konventionen des Science Fiction weil sie mehr auf den Alltag der Anwohner der Zonen, der Stalker und Wissenschaftler eingehen als auf die Tatsache des außerirdischen Besuchs selber. Es ist wie es ist und Menschen müssen ihr alltägliches Leben um solche Ausnahmen herum organisieren.
Der Roman ist außergewöhnlich und er ist außergewöhnlich genial. Vorausgesetzt, dass man an Menschen und deren Geschichten interessiert ist. So wie der Film eine äußerst langsame und melancholisch-philosophische Erzählweise wählt, so ist auch die Romanvorlage fernab actiongeladener Science Fiction. Hier ist Lesen noch ein Erlebnis, eine Selbsterfahrung. Die eigenen Gefühle werden provoziert und nicht im Dauerstress der Handlung abgewürgt. Picknick am Wegesrand ist ein Meisterwerk der Science Fiction.
Mythos Stalker
Nicht nur der Film Stalker macht aus einem Buch ein Phänomen. 2012 folgte eine weitere angelehnte Verfilmung von Alexey Balabanov Me too, die leider nirgends erhältlich ist. Der US-Kabelsender WGN America hat ebenfalls angelehnt an Film und Buch die TV Serie „Roadside Picnic“ gedreht. Wobei der Status im Moment ziemlich unklar ist. 2007 veröffentlichte ein ukrainisches Spieleentwicklerstudio das PC Spiel S.T.A.L.K.E.R., das ebenfalls zahlreiche Anleihen an Buch und Film hat.
Stalker respektive Picknick am Wegesrand ist ein Kult- und Kulturphänomen geworden. Das Endzeitszenario, die unbekannten und gleichzeitig Abenteuer, Ruhm und Reichtum versprechenden Zonen, unbekannte Artefakte, das Setting mit Außerirdischen, Mutationen in den Zonen – ein Mix, der die Phantasien, Wünsche, Hoffnungen und Ängste anregt. Beste Fantastik! Einmal Stalker, immer Stalker. Mich hat es definitiv erwischt.
Arkadi Strugatzki, Boris Strugatzki
Picknick am Wegesrand – Utopische Erzählung
Mit einem Nachwort von Stanislaw Lem
Aus dem Russischen von Aljonna Möckel.
Taschenbuch
224 Seiten
Verlag: Suhrkamp
Preis: 8,99 €
ISBN: 978-3-518-37170-1