Lass uns mit den Toten tanzen
Stell‘ dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin, war die antimilitaristische Sponti Hoffnung in Anlehnung an Carl Sandburg. Nun stell dir vor, es ist Krieg und keiner sieht hin. Genau das geschieht gerade. Zumindest empfindet es so Pia Klemps Alter Ego in „Lass uns mit den Toten tanzen“. Pia Klemp ist Kapitänin auf der Iuventa und auf der Sea Watch 3 bei zivilen Rettungsmissionen im Mittelmeer gewesen, bis ihre Menschenrechtsarbeit kriminalisiert wurde und ihr Untersuchungshaft in Italien drohte. Klemp ist eine von vielen Aktivist_innen, die dem Sterben von in Seenot geratenen Flüchtlingen nicht länger tatenlos zuschauen konnte. „Wenn ich es mir recht überlege, dann bin ich sehr wohl bereit, meinen Frust und die affige Trauer um mich selbst zu Handgranaten der Solidarität zu pressen. Es ist Krieg.“
Kapitänin Pia Klemp auf der Brücke der Sea Watch 3 | Author: Ruben Neugebauer / Sea-Watch.org | CC BY-SA 4.0
Es ist kein kalter Krieg und es ist kein heißer Krieg. Es ist ein stiller Krieg. Mit zehntausenden Toten, mit zehntausenden Folteropfern, mit Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Massenfluchten, Verhungern, Verdursten, Ertrinken. Die Menschenverachtung der europäischen Politik macht keine Unterschiede zwischen Männern, Frauen, Kindern oder Babys. Im Tod verwirklicht sich das Menschenrechtsversprechen der Gleichheit.
Die tödlichste Grenze der Welt
Die tödlichste Grenze der Welt verläuft nicht zwischen irgendwelchen verfeindeten Ländern im Kriegszustand oder an den Rändern einer kommunistischen Diktatur, sondern sie umschließt die Friedensnobelpreisträgerin Europa. 2012 ausgezeichnet u.a. für „den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte“. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits hunderte Menschen auf der Flucht im Mittelmeer elendig ertrunken. Die Festung Europa schottet sich hermetisch ab, um ihren Wohlstand und ihre „kulturelle Identität“ zu sichern. Doch Menschenrechte gehören ganz offensichtlich nicht zu diesen vielbeschworenen westlichen Werten. Das Feigenblatt des Kapitalismus ist schon lange gefallen. Mittlerweile sind weit über 20.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Und Europa verschließt die Augen, will das Elend, das es selbst mit verursacht, nicht sehen.
Pia Klemps misanthropischer Humanismus ist die Antriebskraft für ihre Einsätze für Umweltschutz und Menschenrechte, für den Kampf für eine bessere Welt. In Lass uns mit den Toten tanzen wird die mehr oder minder autobiografische Geschichte der Kapitänin erzählt. Das heißt nicht, dass es sich nicht so zugetragen hat, wie es Klemp beschreibt. Aber es bedeutet, dass manches literarisch verdichtet ist, manches dem „Prinzip Papillon“ von Henri Charrière ähnlich sein dürfte und manches vermutlich noch weitaus zu harmlos beschrieben wurde. Es ist ein geradezu intimer Einblick in das Leben, die Gefühls- und Gedankenwelt und die Weltsicht eines Menschen, der sich dem Leiden nicht verschließen kann, nicht verschließen will.

Die Hilfsorganisation „JUGEND RETTET“ mit ihrem Schiff „Iuventa“ im Mittelmeer | obs/3sat/Michele Cinque/Cesar Dezfuli
Wer erkämpft das Menschenrecht?
Die Ertrunkenen haben keine Stimme mehr. Sie haben nicht einmal mehr Namen oder eine Geschichte. So als hätte es sie nie gegeben. Ausgelöscht, weil Europa seinen räuberischen Wohlstand nicht aufgeben will. Radikale Politiker und autoritäre Helfershelfer kriminalisieren die Seenotretter. Erschweren und verhindern die lebensnotwendige Arbeit. Die Friedensnobelpreisträgerin tötet. Täglich. Aber wen interessieren schon Unpersonen.
Klemps Roman hat das Potenzial, die vom Konsum besoffene Mittelschicht Europas zu ernüchtern. Die Party ist vorbei. Auch wenn wir noch so viele kapitalistische Tranquilizer in uns reinkippen, um nicht mehr zu fühlen, was wir der Natur und den Menschen antun. Selten war das vielbemühte Kafka Zitat zutreffender als hier: „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Und Pia Klemp weiß die Axt zu schwingen. Und eine Axt ist nun mal kein Skalpell, ebenso wie ein Krieg nicht der richtige Ort für allzu große Differenzierungen ist.
Und so rast die Protagonistin zwischen Kohlhaasschem Idealismus und aktionistischem Mackertum hin und her. Zwischen larmoyanter Arroganz und selbstgerechtem Fundamentalismus. Zwischen authentischer und kritischer Selbstreflektion und zynischer Welterklärung. Pia Klemps Alter Ego ist keine Heldin, will es auch nie sein. Sie ist nicht einmal eine Anti-Heldin. Sie ist einfach wie sie ist. Oder wie sie erscheinen soll. Das liest sich manchmal arg bemüht, zumal nicht jede Allegorie sitzt und manchmal weniger, mehr gewesen wäre. Aber die Ambivalenz des Lebens, die verlängerte Adoleszenz der Petra Pan, die für ihr Nimmerland kämpft, wurde selten so herausragend eingefangen. Will man Pia Klemp vorwerfen, dass die Kapitänin nicht so ist, wie man sie sich wünschen würde? Will man der Aktivistin vorwerfen, dass ihre Analysen aber nicht immer zutreffen oder allzu verkürzt dargestellt sind?
Wer sich bemüßigt fühlt darüber zu urteilen, dass Pia Klemp eine Linksradikale ist und damit das Klischee des extremen Weltverbesserers stützen würde, der möge sich im gleichen Atemzug fragen, warum es wohl linksradikaler junger Menschen bedarf, um die fundamentalsten Werte unserer Gesellschaft zu verteidigen. Es wäre die vornehmste Aufgabe der gesamten Gesellschaft und ihrer politischen Repräsentanten die Menschenrechte zu verteidigen und Menschen in Seenot zu retten. Stattdessen werden flüchtende Menschen, von libyschen Milizen unterstützt von der EU, in KZ-ähnliche Verhältnisse zurückgebracht. Wer vom (Proto)Faschismus in Europa nicht reden will, möge mit seiner Kritik an linken Aktivist_innen verstummen.

Sea Watch 3 | Author Chris Grodotzki / Sea-Watch.org | CC BY-SA 4.0
How to change the world
Frei nach Christoph Schlingensief: Nach dem Lesen eines Buches muss man Liebe oder Revolution machen wollen. Nach Lass uns mit den Toten tanzen, will man beides machen.
Kauft das Buch, lest es. Kauft noch mehr Bücher und verschenkt sie im Freundeskreis. Diskutiert drüber. Niemand darf sagen, er hätte davon nichts gewusst. Ihr müsst euch nicht gleich aufmachen und selber zu Aktivist_innen werden. Nicht jede_r kann das. Aber ihr könnt trotzdem etwas tun. Informiert euch und andere. Das ist der erste Schritt. Seid solidarisch. Seid rebellisch. Und helft den Helfer_innen. Jede Spende zählt.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt beim Maro Verlag.
Lass uns mit den Toten tanzen
Pia Klemp
Roman
Hardcover
Seiten: 224
Verlag: Maro Verlag
Preis: 20,- €
ISBN: 978-3-87512-491-0
1 Euro pro verkauftem Buch spendet der Verlag an Sea-Watch e.V.!
Interviews mit Pia Klemp
Interview beim Bayrischen Rundfunk.
Interview in der Basler Zeitung.
Fernsehdokumentation des ZDF über Einsätze der Iuventa
Iuventa – Unterwegs mit Flüchtlingsrettern – 360°-Reportage | ZDF
Rettung in letzter Sekunde
Trailer der Kino-Reportage Iuventa | Seenotrettung – ein Akt der Menschlichkeit