Gogols Disko
Am 20. März ist Indiebook Day und ich werde hier einige fantastische Bücher aus Indieverlagen vorstellen. Ziemlich beeindruckend vorgelegt, hatte gerade Asja Bakićs „Mars“ aus dem Verbrecher Verlag und es folgt Paavo Matsins „Gogols Disko“ aus dem kleinen aber feinen homunculus Verlag. Gogols Disko würde niemals in einem großen Verlag erscheinen, da es für solch Literatur keinen großen Absatzmarkt gibt. Zugegeben Paavo Matsins surrealistische Posse ist schon special interest, aber welch wunderbare Literatur würde verloren gehen, wenn es nicht mutige Verlage geben würde, die genau diese Stimmen herausgeben und übersetzen. Der Selbstanspruch von homunculus wird dabei vollständig erfüllt: „Die literarische Weitung der eigenen Welterfahrung, die künstlerische Katalyse der Grenzerweiterung, die Spürbarmachung der stilistischen Vielfalt einer dezentralen Kulturlandschaft.“Was wissen wir schon von Estland. Ein Land mit weniger Einwohnern als München. Ich jedenfalls recht wenig und Paavo Matsin zusammen mit dem homunculus Verlag sind kongeniale Botschafter, um dies zu ändern. Gogols Disko verweigert sich jeder Einordnung. Eine Gaunerkomödie aus Absurdistan, eine Groteske aus Nimmerland, eine dadaistische Provokation oder doch futuristischer Surrealismus? Fest steht, es ist ein Karneval des Abstrusen, ein Feuerwerk der Sprachverliebtheit, ein Spiel mit Erwartungen und ein Labyrinth der Genre Stereotypen. Matsin erzählt keine Geschichte im herkömmlichen Sinne, sondern orchestriert Begriffe und Deutungswelten zu einem Mosaik, einem textlich gewebten Gobelin.
„Seine gesamte Jugend über war er auf dem Weg nirgendwohin gewesen und seiner Meinung nach war er allmählich ans Ziel gelangt.“
Man wird Matsin nicht gerecht, wenn man sein Kunstwerk als „europäische Dystopie“ bezeichnet. Auch wenn das Setting in der Zukunft oder eher einem magischen Paralleluniversum zu spielen scheint, ist es doch viel eher eine anachronistische Phantasmagorie. Das russische Neozarenreich hat die NATO besiegt und Estland besetzt. Fast die gesamte kulturelle Identität ist ausgelöscht. Zahlreiche Menschen wurden deportiert und der Geheimdienst kontrolliert die Verbote. Die estnische Literatur hatte laut Gesetz auf jedem WC zu stehen, „aber unter keinen Umständen durfte man sie lesen!“ Klingt nach dem Zarenreich und der Sowjetunion des 19. und 20. Jahrhunderts? So erinnert auch das restliche Szenario eher an Films Noirs oder Gangsterkomödien der vergangenen Hektode, die mit viel Ironie und Sarkasmus die Ängste und Vorurteile der Rezipient*innen aufspießen.
In Estland leben allen voran nur noch Künstler, Kleinkriminelle und sonstige gescheiterte Existenzen, oft in Personalunion. Eines Tages stibitzt ein Taschendieb das Portemonnaie von Gogol. Ja genau, Nikolai Wassiljewitsch Gogol, dem russischen Literaten-Übervater, der an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose zugrunde ging. Mehr Symbolik geht dann auch kaum. Der eher zombiehafte Wiedergänger, kein Wunder nach rund 170 Jahren Totenruhe, spielt weiterhin fast keine Rolle, sperren ihn die im Alltag verhafteten Protagonisten doch kurzerhand in eine Toilette ein, wo er nicht weiter stören kann.
„Ticket-tu-reid, Mann!“
Matsin vermischt, was man nur vermischen kann. Rock’n’Roll der Beatles Ära, Ganoven der 20er Jahre, Ur-Ängste der Esten vor dem großen Bruderfeind Russland und alles ist eingebettet in den Wahnsinn des Alltags, der nur in den Kategorien des eigenen Selbst wahrgenommen wird.
Gogols Disko ist reines Lesevergnügen. Sprachverliebte Kunst, die fast schon Selbstzweck ist. Absurdes Literatentheater, dass begeistern möchte und dadurch Interesse weckt. Interesse für den Autor, für Estland und für Kunst. Wer jenseits des Mainstreams Leseerfahrungen machen möchte, ist hier bestens aufgehoben. Wer Lesen als Kunstform entdecken möchte, oder bereits zu schätzen gelernt hat, sollte unbedingt zugreifen.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt beim homunculus verlag.

lit*europe
Fantastik
homunculus
25. Februar 2021
Hardcover [signiert vom Autor]
176
https://homunculus-verlag.de/produkt/gogolsdisko/
Maximilian Murmann
21,00 €
978-3-946120-31-5

Karneval des Abstrusen, Feuerwerk der Sprachverliebtheit, ein Spiel mit Erwartungen und ein Labyrinth der Genre Stereotypen. Mustread!