Die Arena
Wer hier öfter mitliest, weiß, dass ich ein großer Frankreich und Paris Liebhaber bin. Obwohl man mittlerweile schon fast sagen kann: war. Nun möchte ich kein Grundsatzurteil fällen, aber die Entwicklungen in Frankreich sind äußerst bedenklich und irritierend. Aber selbstverständlich auch hausgemacht. Wer seine koloniale Vergangenheit und Gegenwart nicht angemessen aufarbeitet und weiterhin mit einem weitverbreiteten und akzeptiertem rassistischen Welt- und Menschenbild den Migranten begegnet, darf sich über bestimmte Auswirkungen nicht wundern. Man kann Menschen nicht zu tausenden in Banlieues kasernieren, ihnen jegliche Aufstiegschancen verwehren und sich dann wundern, dass sie sich nur doch destruktiv ausdrücken können. Die weltweite kapitalistische Krise, die vor allem zu Lasten der Schwächsten geht, hat auch vor Frankreich nicht Halt gemacht und mittlerweile sind die Verdrängten aus den Randgebieten in die Zentren gekommen. Das bürgerliche Paris wird mit seiner eigenen Vergangenheit und Politik konfrontiert. In diesem aktuellen Szenario hat Négar Djavadi ihren neuen Roman „Die Arena“ angesiedelt. Das Paris der Gegenwart, Hölle und Paradies.
Die Wütenden
Nun kann man aus diesem Setting einiges machen. An Vorbildern fehlt es sicherlich nicht. Djavadi ist selbst Drehbuchautorin und sollte sich dementsprechend mit den filmischen Vorlagen bestens auskennen. Aber während der Kultfilm Le Hain von 1995 die Perspektivlosigkeit, Gewalt und die Konfrontation von Polizei und Jugendlichen in den Banlieues aus der Binnenperspektive der Letzteren thematisiert, verbleibt „Die Arena“ seltsam steril. Angepriesen als Victor Hugo 2.0 und von vielen Rezensent*innen dankbar aufgegriffen, könnte das Label gar nicht falscher sein. Wie man es richtig macht hat der Film Die Wütenden von 2019 gezeigt, dem die 2005er Unruhen in Frankreich Pate standen. Während es also ausgezeichnete Filmvorlagen gibt, hat sich Djavadi leider gänzlich anderer Vorbilder verschrieben. Ganz wie der Protagonist ihres Romans, dem Europachef des amerikanischen Streaming-Anbieters BeCurrent, quasi ein literarisches Netflix, hat sich Djavadi diesmal der Produktion von serienreifer Massenware verschrieben.

Rue Ramponeau Paris
Für mich steht „Die Arena“ als Symbol für die Netflixisierung der Literatur. Das hat manch interessante Stellen, die sehr filmisch beschrieben sind, bietet aber vor allem Unmengen an Füllhandlung, um eine Endlosserie produzieren zu können. So wie bei den großen Serien Lost oder Games of Thrones, um nur zwei bekannte zu nennen, immer wieder Personen eingeführt wurden, nur um auf Drehminuten zu kommen, die aber letztlich für die Handlung überhaupt keine Bedeutung haben. Auch bei Djavadi gibt es reihenweise Personen, die zwar irgendwie da sind, aber letztlich nur Seiten füllen. Auch der Versuch, ganz deutlich wie bei Lost, allen eine Hintergrundgeschichte zu verpassen, funktioniert überhaupt nicht. Denn die Geschichten sind zu kurz, es sind Plausibilitätserklärungen. Oder um das Hauptproblem des Romans zu benennen: es handelt sich um rücksichtslos schlichte Stereotype.
Die üblichen Verdächtigen
Und das ist für einen Roman, der als gesellschaftskritisch daherkommt, quasi das Todesurteil. Trotz allem vermutlich ehrlichen Bemühens bleiben die Protagonist*innen Abziehbilder, schlimmste vereinfachte Schemata. Die harten Bullen, der Hassprediger, der aufstrebende Yuppi, die islamistischen, gewalttätigen Jugendlichen, die sorgende Mutter. Und alle bekommen eine einfach gestrickte Hintergrundgeschichte, die eigentlich gar nichts erklärt, aber schön schwermütig und bedeutungsschwanger daherkommt. Der Versuch, allen eingeführten Personen Leben einzuhauchen und die Handlungen verständlich zu machen, scheitert jedenfalls. Und das einzige was irgendwie nicht so richtig auftaucht, ist die rechte und rechtsradikale bürgerliche Gesellschaft in Paris. Über 40 Prozent haben bei den letzten Präsidentschaftswahlen die Rechtsextremistin Le Pen gewählt. Am Rande werden diese zwar auch mal erwähnt, aber immer nur als Randerscheinung, als Alltagsrassismus, der zwar irgendwie gemein ist, aber niemals treibende Kraft.

Boulevard de la chapelle | Autor: Zantastik | CC BY-SA 3.0
Der ganze Roman wirkt vom Ergebnis her gedacht. Es muss ein großes fulminantes Finale geben und alle Stränge laufen darauf hinaus – auf Teufel komm raus. Denn so richtig überzeugend sind die ineinandergreifenden Stränge nicht. Zuerst denkt man an eine kritische Beschreibung und Aufarbeitung der französischen Gesellschaft, schreibt hier doch eine iranische Migrantin. Aber dann zeigt sich doch recht schnell die bürgerliche Empörung über die islamischen Jugendlichen. Ein bisschen bigotte Selbstreflexion, dass ja auch irgendwie die Mehrheitsgesellschaft ihre Fehler hat, aber am Ende sind es eben doch die bösartigen Jugendlichen, die das Chaos und die Gewalt zu verantworten haben. So können sich die konservativen oder auch noch weiter rechts stehenden Leser*innen genüsslich nach der Lektüre zurücklehnen und in sich hineinmurmeln, man habe es ja schon immer gewusst. Und bei den Wahlen macht man dann sein Kreuzchen bei Le Pen und wundert sich hinterher, dass alles nur noch schlimmer wird. Aber das liegt dann natürlich an den Muslim*innen.
Die Pest
Die allgemeine Gesellschaftskritik, die den unterschiedlichsten Protagonist*innen in den Mund gelegt wird, ist beliebig. Es ist ein Konsumprodukt. Kurzlebig ohne nachhaltige Wirkung. Eine Kritik ist genauso gut wie die andere. Moral und Ethik als willkürliche Massenware, die auf dem Markt der Eitelkeiten gehandelt wird. Die Kritik am bürgerlichen Egoismus und an der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft kommt zwar vor, aber sie entwickelt nicht die geringste Wirkmächtigkeit.
Infektionen, später noch der Vergleich mit der Pest und schon hat man ein naturalisiertes Problem an dem niemand Schuld ist. Fehlt nur noch, dass die gewaltbereiten Jugendlichen desinfiziert und ausgemerzt werden müssen.
Kein Hugo 2.0
Ob Djavadi die Handlung einfach entglitten ist oder ob das volle Absicht war, kann nur die Autorin selbst beantworten. Am Ende bleibt eine Erzählung über das Paris, das Frankreich des 21. Jahrhunderts, indem sich die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten einen erbitterten Kampf (um Anerkennung) bieten. Die einen kämpfen wortwörtlich selbst, die anderen verstecken sich hinter der Macht des Gesetzes und der diese schützenden Gewaltmonopolisten von Polizei und Paramilitärs. Eine explosive Mischung aus Unterdrückung, Ausbeutung, Ignoranz, offenem Rassismus und immer wieder zunehmender Gewaltbereitschaft in einem eskalierenden Teufelskreis aus Rache.

Canal St Martin | Autor: aleske | CC BY 2.0
Das aber ist die Entwicklung der letzten 70 Jahre in Frankreich. Der französische Rap besingt diesen Niedergang seit gefühlten Ewigkeiten. Insofern steht Négar Djavadis Arena auch für eine gewisse bürgerliche Blindheit und Ignoranz. Ach guck an, es gibt Probleme in den Banlieues. Wie konnte das passieren? Und genauso, wie die bürgerliche Antwort lautet mehr Polizei, mehr Repression, steht auch bei Die Arena am Ende die Erkenntnis, dass die gewalttätigen jugendlichen das Problem sind. Das ist zu einfach und Teil des Problems. Victor Hugos Die Elenden ist genau das Gegenteil. Nun gut, beworben wird der Roman damit, für Leser*innen von Michel Houellebecq geeignet zu sein. Das hätte eigentlich Warnung genug sein müssen.
Der Schreibstil indessen ist sehr angenehm mit vielen gelungenen Sprachbildern. Der Vorwurf es wäre nicht spannend geschrieben, geht auch ins Leere. Schriftstellerin ist Davadi ohne Zweifel. Lediglich das Sujet ist hier das Problem.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei C.H.Beck.

Roman
C.H.Beck
14. Juli 2022
Hardcover
463
https://www.chbeck.de/djavadi-arena/product/33757039
Aus dem Französischen von Michaela Meßner.
26,00 €
978-3-406-79126-0

Bürgerlich-bigotter Roman über das Paris des 21. Jahrhunderts.