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Kryonium

Das Genre der Fantastik ist immer unterrepräsentiert, vor allem natürlich, weil es so wenig gute Autor*innen in diesem Bereich gibt. Es muss schon eine sehr illustre Runde gewesen sein, die dort zusammenkam. Anwesend waren zumindest die Gebrüder Grimm, Lewis Carroll, Franz Kafka, Michael Ende und Haruki Murakami. Manch einer will auch John Brunner und William Gibson gesehen haben. Leider ist nicht überliefert, ob es sich dabei um eine reine Diskussionsrunde handelte oder ob auch bewusstseinsverändernde Substanzen konsumiert wurden. Zumindest Sigmund Freud, der zeitweilig zugegen gewesen sein soll, hat den Anwesenden wohl ein weißes Pulver als neuartiges Medikament angeboten. Wie dem auch sei, Matthias A.K. Zimmermann war wohl ebenfalls dort und hat munter Notizen gemacht. Herausgekommen ist sein Debüt Kryonium – ein grandioses Werk der Fantastik.

Gefangen an einem unbekannten Ort, aus unbekannten Gründen mit unbekannter Zukunft werden wir mit der*dem geschlechtslosen Erzähler*in ins Namenlose geworfen. Und was ist das für ein seltsamer Ort? So märchenhaft, so fantastisch, absurd und grotesk. Und doch; ohne Sinn. Und ohne Sinn, ohne Zweck kann und will der Mensch nicht leben. Also wird die Flucht vorbereitet. Nur stellt sich der Ort als totalitär heraus. Wie entrinnt man einem Alptraum? Das Ganze wird nicht gerade einfacher dadurch, dass der*die Protagonist*in keine Erinnerungen zu haben scheint. Wenn man nicht einmal weiß, wer man selbst ist und warum man hier ist und wie man hier überhaupt hingekommen ist, ganz zu schweigen davon, was man hier eigentlich machen soll, fällt es nicht gerade einfach aus dem Märchen- oder Spukschloss auszubrechen.

Follow the white rabbit

Der fantastische Mahlstrom aus Hexen, Drachen, sprechenden Tieren, Fabelwesen ((inklusive Monkey-Island Referenz)) und Gegenständen, Schneekugeln und anderen mehr oder weniger bedrohlichen Menschen zieht uns immer tiefer in den Abgrund der menschlichen Psyche. Paranoia, Wahn, Isolation und ein unerträgliches Maß an Ungewissheit vereinen sich mit Magie und Fantasie. Und das beschreibt nur den Anfang. Danach kommen Wendungen, die das Lesen zu einem reinen Fest machen. Auf der Suche nach den eigenen Erinnerungen und bei zahlreichen Fluchtversuchen werden wir zum Weltenreiter, zum Surfer durch die Multiversen, zum Hobo der Realitäten. Wir sind Getriebene unserer eigenen Vorstellungen und Erinnerungen. Aber kann man den eigenen Erinnerungen überhaupt trauen? Angesichts der virtuellen Realitäten, die heute schon möglich sind – da werden tote Schauspieler wieder zum Leben erweckt – kann man da überhaupt seiner Wahrnehmung trauen?

„Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt.“ Kafka. Vor dem Gesetz.
Matthias Zimmermann hat mit Kryonium ein Debüt geschrieben, das auf zahlreichen Ebenen zu begeistern vermag. Es liest sich ausgezeichnet, geradezu luzide, ist ausnahmslos spannend, hat großartige Wendepunkte, weiß zu irritieren ohne zu enttäuschen und sprengt die Grenzen der Genres. Ein symbiotisches Werk, das nicht nur unterhalten will, sondern zugleich auch tiefgehende Gedanken induziert. Zwar kann der Anspruch nicht durchgängig gehalten werden, nach hinten fällt der Roman dann doch etwas ab, aber da jammere ich schon auf sehr hohem Niveau. Einziger Wehrmutstopfen ist lediglich das Nachwort von Stephan Günzel. Das hätte man sich sparen können. Was hat den Verlag da geritten? Haben sie nicht auf die Geschichte des Romans alleine vertraut? Musste es noch gedanklich eingepfercht werden, in das institutionalisiert akademische Namedropping eines Günzel?

Nichtsdestotrotz, wer die oben erwähnten und damit referenzierten Autoren mag, sollte unbedingt Kryonium lesen!

 

Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt beim Kulturverlag Kadmos.

 

Kryonium. Die Experimente der Erinnerung Book Cover Kryonium. Die Experimente der Erinnerung
Matthias A.K. Zimmermann
Roman
Kadmos
Oktober 2019
324
https://www.kulturverlag-kadmos.de/buch/kryonium.html
19,90 EUR
978-3-86599-444-8

Ein Meisterwerk der genresprengenden Fantastik!