cover nenn mich einfach igel
Roman:
Jacqueline Thör
Preis:
20,- €

Rezension von:
Bewertung:
4
24. Januar 2020
Letzte Änderung:24. Januar 2020

Sprachlicher Wohlgenuss mit herausforderndem Thema, welches allerdings auch zu scheitern droht.

Nenn mich einfach Igel

Selten lässt mich ein Roman so zwiespältig zurück. Hier wird das Aushalten von Ambivalenz arg auf die Probe gestellt. Der Roman beschäftigt mich seit Tagen, ich bin verärgert. Und das liegt nicht am herausfordernden Thema, sondern an der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt. Allein für den Schreibstil, die Bilder, das wechselnde Tempo, die Nähe, die sich beim Lesen einstellt, gebührt Jacqueline Thör die allergrößte Hochachtung. Ein wahrer Sprachgenuss. Selten war ich emotional so engagiert beim Lesen. Viel mehr kann ein Roman eigentlich nicht leisten. Mitfiebern, mitleiden, die Freude und Angst erleben. Grandios. Leider ist es nur nicht das versprochene moderne Märchen, auch wenn Gut und Böse hier sagenhaft überstrapaziert werden. Vielmehr erliegt Jacqueline Thör ihrer eigenen Symbolik. Den Plot überfrachtet, vielleicht auch zu sehr mit dem Skandal liebäugelnd, entgleist das Ende dermaßen, dass der vorherige positive Eindruck nachhaltig beschädigt wird.

„Louises Augen wirken so hart, als wären sie aus dem gleichen Stein gemeißelt, aus dem einst das Schloss errichtet wurde.“

Sprachlich ein Wohlgenuss.

Jacqueline Thör erzählt die Geschichte von Igel, einer intersexuellen Person, mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen. Identität ist schon für eindeutigere Geschlechter eine sehr fragile Angelegenheit, wie ist es da erst um ein Hermaphrodit bestellt? Igel hat sich eingemauert. Es ist geradezu die chinesische Mauer, lang und hoch. Kein Mensch soll dort durchdringen können. Kein Gefühl jemals wieder Leid verursachen. Nur hinter diesen ausdruckslosen Mauern existiert ein Mindestmaß an Sicherheit. Als Igel Sascha kennenlernt, eine androgyne Schönheit, beginnt die Mauer zu bröckeln. Was wird sich Bahn brechen? Wurde nur das fragile Ich vor der Außenwelt beschützt? Oder auch die Außenwelt vor Igel?

Das Ich und seine Feinde

Das Lesen ist auch ein Selbstexperiment, eine Selbsterkenntnis. Welches Pronomen, welches Bild hat man von der Protagonistin oder dem Protagonisten im Kopf? Ich kenne Enby, aber ich benutzte es beim Lesen nicht. Automatisch, unbewusst habe ich Igel ein Geschlecht zugeordnet. Damit zu spielen, dies den Leser*innen vor Augen zu führen, ist der größte Gewinn des Romans.

Doch Jacqueline Thör hat mehr mit den Leser*innen vor.

Leider muss ich spoilern, etwas was ich ansonsten bei Rezensionen aufs äußerste zu vermeiden suche. Nur muss für eine fundierte Kritik hier etwas aufgezeigt werden.

Spoiler
Jacqueline Thör möchte den Skandal. Sie nimmt sich nicht nur eines emotionalen Themas an, das durch Genderdebatten und Rechtspopulismus aktueller denn je ist. Sie will nicht nur thematisch anecken, sie will im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven gehen. Das kann wie bei Lize Spit als Kafkas Axt für das gefrorene Meer in uns wirken oder es kann daneben gehen. Es ist ein Drahtseilakt. Der kalkulierte Skandal zeigt sich eben auch in diesem, ich nenne es mal, Lize-Spit-Moment. Wer Spits Und es schmilzt gelesen hat, wird die gemeinte Szene sicher erkennen. Thör ist etwas weniger explizit, aber nicht weniger inszeniert. Bliebe es nur bei dieser Szene, wäre sie sogar als herausragende Darstellung eines inneren Konfliktes lesbar. Aber in Zusammenschau mit den letzten 15 Seiten, scheint es mir doch nur um Aufmerksamkeitsökonomie zu gehen.

Der Extremismus der Mitte

Und so wird aus der Emanzipationsbewegung, die nur scheinbar für Igels Rechte kämpft, plötzlich eine (links?)radikale Terrorgruppe. Eine Gender-RAF. Es ist die Faustsche Umkehr: Es ist die Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Die Radikalisierung einer guten Idee, die in den Terror mündet. Ja mei. Nur was hat das in dieser Geschichte zu suchen? Soll das der entgegengesetzte Pendelausschlag zur rechten menschenverachtenden Bewegung sein, die als eine Art Pegida im Roman erscheint? Both sides? Ernsthaft? Das klingt nach „Genderwahn“, einem zentralen Kampfbegriff der Neuen Rechten.

Und es wird noch schlimmer:

So wirft Igel Sascha vor:

„Du willst das Land weiter spalten. Du willst Terror verüben und es so aussehen lassen, als sei es das Werk von jemand anderen“.

Was ist das für eine Aussage in der heutigen Zeit? Muss man den Rechten Terroranschläge in die Schuhe schieben, damit die Mitte der Gesellschaft erkennt, wie schlimm die Rechtspopulisten wirklich sind? Thör tut geradezu so, als gäbe es keinen rechten Terror in Deutschland. Als müsste man eine Bedrohung durch rechtsextreme Banden herbeifantasieren. Das ist infamer radikaler Zentrismus. Nun ist es natürlich schwierig einer jungen Autorin vorzuwerfen, sie überblicke die politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen, gerade in so einer schwierigen Gemengelage, nicht ausreichend. Allerdings war es auch ihre Entscheidung immer noch einen drauf zu setzen. Die überbordende Thematik sich radikalisierender gesellschaftlicher Ränder mit Trumps idiotischem Imperativ „There Are Some Very Bad People on Both Sides“ negiert die gesellschaftliche Wirklichkeit und banalisiert den rechten Terror.

Das Thema Umgang mit Intersexualität hätte vollkommen gereicht. Die Stellen in denen es um Identität geht, sind herausragend, die (selbst)zerstörerische Kraft von Demütigung, Ausgrenzung und Ausbeutung sind Anlass für Aufregung und Empörung genug und hätten mehr Aufmerksamkeit verdient. Leider wird das alles am Ende mit der Welle des gewollten Skandals hinweggeschwemmt. Noch ein bisschen zwangsemotionalisierender Torture-Porn, aber nicht zu viel, es muss ja auch noch der Mitte gefallen, Missbrauch und Selbstverletzung.

Potenzial verschenkt

„Hitze, Enge. Mama, warum ist deine Liebe so heiß, dass sie mich verbrennt?“

Dabei ist die implizierte Aussage so klar, so überdeutlich, dass jede Überhöhung vollkommen unnötig gewesen wäre. Identität gelingt nicht über Feindbilder, Identität kann nicht von außenstehenden Gruppierungen zugesprochen werden. Identität muss sich frei herausbilden können, in gegenseitiger Anerkennung und Gleichwertigkeit. Ein stabiles Selbst braucht Vertrauen, wohlwollende Spiegelung und unhinterfragbare, unrelativierbare Würde. Leider verschenkt Jacqueline Thör hier das Potenzial ihres Debüts. Schriftstellerisch ist das schon ganz große Klasse und man darf auf mehr gespannt sein. Inhaltlich ist es im besten Falle unbedarft oder gewollt skandalös, im schlechtesten Falle funktionalisiert die Autorin ebenfalls Intersexuelle für die Provokation. Die Geister, die die Autorin rief, richten sich letztlich gegen sie selbst. Am Ende als doch wieder der umgekehrte Goethe? Es ist die Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft?

Sprachlich aber eine absolute Empfehlung. Deshalb auch die insgesamt dann doch positive Bewertung (5 Punkte für die Sprache, 3 für den Inhalt macht wohlwollende 4). Allein das letzte Bild, dass Thör im Roman erschafft, ist grandiose Symbolik, die den Kreis schließt. Was hätte das für ein Debüt sein können. Mehr Märchen und weniger Skandal wären wünschenswert gewesen. Sei‘s drum, in Gänze ist es aber, so oder so, ein Buch, mit dem man sich auseinandersetzen sollte.

 

Mehr Informationen gibt es direkt beim Elif Verlag.

 

Nenn mich einfach Igel
Jacqueline Thör
Hardcover
200 Seiten
Verlag: Elif Verlag
Preis: 20,- €
ISBN: 978-3-946989-21-9