Nenn mich einfach Igel
Selten lässt mich ein Roman so zwiespältig zurück. Hier wird das Aushalten von Ambivalenz arg auf die Probe gestellt. Der Roman beschäftigt mich seit Tagen, ich bin verärgert. Und das liegt nicht am herausfordernden Thema, sondern an der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt. Allein für den Schreibstil, die Bilder, das wechselnde Tempo, die Nähe, die sich beim Lesen einstellt, gebührt Jacqueline Thör die allergrößte Hochachtung. Ein wahrer Sprachgenuss. Selten war ich emotional so engagiert beim Lesen. Viel mehr kann ein Roman eigentlich nicht leisten. Mitfiebern, mitleiden, die Freude und Angst erleben. Grandios. Leider ist es nur nicht das versprochene moderne Märchen, auch wenn Gut und Böse hier sagenhaft überstrapaziert werden. Vielmehr erliegt Jacqueline Thör ihrer eigenen Symbolik. Den Plot überfrachtet, vielleicht auch zu sehr mit dem Skandal liebäugelnd, entgleist das Ende dermaßen, dass der vorherige positive Eindruck nachhaltig beschädigt wird.Sprachlich ein Wohlgenuss.
Jacqueline Thör erzählt die Geschichte von Igel, einer intersexuellen Person, mit weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen. Identität ist schon für eindeutigere Geschlechter eine sehr fragile Angelegenheit, wie ist es da erst um ein Hermaphrodit bestellt? Igel hat sich eingemauert. Es ist geradezu die chinesische Mauer, lang und hoch. Kein Mensch soll dort durchdringen können. Kein Gefühl jemals wieder Leid verursachen. Nur hinter diesen ausdruckslosen Mauern existiert ein Mindestmaß an Sicherheit. Als Igel Sascha kennenlernt, eine androgyne Schönheit, beginnt die Mauer zu bröckeln. Was wird sich Bahn brechen? Wurde nur das fragile Ich vor der Außenwelt beschützt? Oder auch die Außenwelt vor Igel?
Das Ich und seine Feinde
Das Lesen ist auch ein Selbstexperiment, eine Selbsterkenntnis. Welches Pronomen, welches Bild hat man von der Protagonistin oder dem Protagonisten im Kopf? Ich kenne Enby, aber ich benutzte es beim Lesen nicht. Automatisch, unbewusst habe ich Igel ein Geschlecht zugeordnet. Damit zu spielen, dies den Leser*innen vor Augen zu führen, ist der größte Gewinn des Romans.
Doch Jacqueline Thör hat mehr mit den Leser*innen vor.
Leider muss ich spoilern, etwas was ich ansonsten bei Rezensionen aufs äußerste zu vermeiden suche. Nur muss für eine fundierte Kritik hier etwas aufgezeigt werden.
Potenzial verschenkt
Dabei ist die implizierte Aussage so klar, so überdeutlich, dass jede Überhöhung vollkommen unnötig gewesen wäre. Identität gelingt nicht über Feindbilder, Identität kann nicht von außenstehenden Gruppierungen zugesprochen werden. Identität muss sich frei herausbilden können, in gegenseitiger Anerkennung und Gleichwertigkeit. Ein stabiles Selbst braucht Vertrauen, wohlwollende Spiegelung und unhinterfragbare, unrelativierbare Würde. Leider verschenkt Jacqueline Thör hier das Potenzial ihres Debüts. Schriftstellerisch ist das schon ganz große Klasse und man darf auf mehr gespannt sein. Inhaltlich ist es im besten Falle unbedarft oder gewollt skandalös, im schlechtesten Falle funktionalisiert die Autorin ebenfalls Intersexuelle für die Provokation. Die Geister, die die Autorin rief, richten sich letztlich gegen sie selbst. Am Ende als doch wieder der umgekehrte Goethe? Es ist die Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft?
Sprachlich aber eine absolute Empfehlung. Deshalb auch die insgesamt dann doch positive Bewertung (5 Punkte für die Sprache, 3 für den Inhalt macht wohlwollende 4). Allein das letzte Bild, dass Thör im Roman erschafft, ist grandiose Symbolik, die den Kreis schließt. Was hätte das für ein Debüt sein können. Mehr Märchen und weniger Skandal wären wünschenswert gewesen. Sei‘s drum, in Gänze ist es aber, so oder so, ein Buch, mit dem man sich auseinandersetzen sollte.
Mehr Informationen gibt es direkt beim Elif Verlag.
Nenn mich einfach Igel
Jacqueline Thör
Hardcover
200 Seiten
Verlag: Elif Verlag
Preis: 20,- €
ISBN: 978-3-946989-21-9