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Tagebuch der Apokalypse

Zweistellige Aktienkurseinbrüche über Tage und die Zusicherung unbegrenzter Kreditprogramme aus der Politik in der Videoschalte deuten es an: Die Gereiztheit hinter der Partikelfilternden Halbmaske wandelt sich allmählich zum Tunnelblick höchster Argwohn, einem hervorragenden Nährboden für sonderbare, oftmals arg überschießende Spekulationen.

Nun, es dürfte eine selbsterfüllende Prophezeiung werden, dass in einer gesellschaftlichen Stimmungslage bei der gewöhnlich besonnene Bürger zu Hamstereinkäufen neigen, Hände nicht mehr geschüttelt werden, vom ÖPNV und Sozialkontakten öffentlich gewarnt wird, ein ungünstig einsetzende Husten oder Niesanfall Prügel nach sich ziehen kann, Adressen von Desinfektionsmitteldepots in Pharmazeitungen gesucht werden und jeder die Abkürzung FFP3 kennt, gerade auch Buchreihen des pensionierten Militärs J. L. Bourne auf größeres Leser*innenpublikum stoßen werden.

Gerade in seinem Weltuntergangsklassiker „Tagebuch der Apokalypse – Teil 1“ (TdA1), hellseherisch Ende der 2000er Jahre geschrieben und Einleitungsband seiner Tetralogie zur größtmöglichen Menschheitskatastrophe, offenbart Bourne feines Gespür für die verdrängte Ahnung, dass unsere so stabile Gesellschaftsordnung höchst fragil ist, und zeigt darüber hinaus achtbare dramaturgische Kompetenzen was die Entwicklung von Krisenszenarien, rauschhaften Untergangsszenen und in Kampf angegangenen Unterzahlsituationen betrifft.

Die Gefahr aus China

TdA1 beginnt am ersten Januar drei Uhr achtundfünfzig kurz nach dem Höhepunkt einer heiter durchzechten Neujahrsnacht eines namentlich uns unbekannten US-amerikanischen Marineflieger-Offiziers. Alkohol, verlässlich als dionysischer Begleiter, schließlich überschneiden sich Jahreswechsel, Heimaturlaub und Familienbesuch in der Einöde Nord-West Arkansas, dem „Natural State“ im Süden Amerikas. Der Vorsatz für die kommenden Monate ist simpel und verweist auf den eher schlichten, praktisch ausgerichteten Charakter des Protagonisten: Er möchte ein Tagebuch führen, weshalb der Bericht, über den gesellschaftlichen Abstieg in die Hölle eben abwechselnd in längeren oder kürzen Einträge, aus diesen uns vorliegt. Nun, in Arkansas, wo das Mobiltelefon ohne Empfang ist und das Internet im Elternhaus in 56 Kilobit-Modus einer Zeitlupe gleicht, ist Langweile ein notorisches Ärgernis und als probates Mittel gegen diese, wie auch den lähmenden Kater des nächtlichen Saufgelages, dienen die spärlich informativen Lokalnachrichten, die zuweilen über eine mysteriöse Grippe-Epidemie in China berichten.

gasmaske

Während am fünften Januar bezüglich „China-Sache“ und „China-Bazillus“ einzig kurz vom entsandten Medizinerteam der US-Navy als Beraterstab berichtet wird, stehen kurz danach schon erkrankte Soldaten der medizinischen Expedition, Quarantänemaßnahmen für Heimkehrer und die Ansprache des Präsidenten zur (Nicht-)Krisenlage im Mittelpunkt der immer reißerisch und ungehalten werdenden medialen Berichterstattung. Da ist der Protagonist bereits in seiner Heimatbasis in San Antonio an den militärischen Arbeitsdienst gebunden, die Langweile vom regulären Alltagstrott abgelöst, eine Einkehr in jedermanns Normalität, wenn nicht die Mutter und die Tante mit ihren notorischen Sorgen und Alarmmeldungen Unruhe stiften würden. Zumal auch die Kameraden aus anderen Landesteilen und Militärbasen einiges an merkwürdigen Gerüchten beizusteuern haben.

Mobilmachung eines Mannes

Keine Frage, das stoisch-rationale Gemüt des unbekannten Chronisten schützt vor der Einnahme durch die umhergreifende diffus gefährliche Stimmungslage und doch vertiefen sich auch seine Sorgfalten als plötzlich bevorstehende Großmanöver im Pazifik abgesagt werden, NORAD (North American Aerospace Defense Command) Ein-Mann-Rationen und andere Verpflegungsartikel für mehrere Monate bestellt und das CDC (Centers for Disease Control and Prevention) beiläufig über Fälle im Marinelazarett in Maryland informiert, wobei die Krankheit motorische Fähigkeiten verändert und Patienten unberechenbar werden lässt. Spätestens als am 11. Januar im Staffelhauptquartiert eine geheime Operation zur „Foto-und Nachrichtenaufklärung“ des Seuchenzentrums in Atlanta im Auftrag des FBI mit ihm als Piloten beginnt und es klar um Bespitzelung der eigenen Regierung geht, ist für unseren Protagonisten der Kauf von Tausenden Schuss Munition in mehreren Geschäften (it´s possible in Gods own Conutry), die Aufstockung des Batterie- und Lebensmittelvorrates, der vielleicht nicht ganz legale Tausch von Militärzubehör auf der Basis und so manches mehr als persönliche Mobilmachung unausweichlich.

Soldaten

Dabei ist die Kaskade von Ereignissen mit infizierten Einwanderern, die in Marsch gesetzte Nationalgarde, die Öffnung von „Kalte Krieg“-Bunkern, die Ausgangssperren für Soldaten, Aufrufe zur häusliche Isolation (irgendwie bekannt), die Hotline zur Meldung von Kranken, leergekaufte Geschäfte, die Chöre aus Polizei-und Krankenwagen-Sirenen, Kannibalismus-Fälle in den Nachrichten, via Webcams übertragene Schusswechseln am Time Square, überlastete Telefonnetze oder Verlautbarungen des Heimatschutzministeriums über Menschen mit 4,4 Grad Celsius Körpertemperatur noch Tage entfernt und die apokalyptische Geschichte erst ganz am Anfang! Die Technik des Tagebucheintrags macht es mit ihren plastisch-präzisen Schilderungen möglich und lässt den Adrenalinspiegel durch die enggeführte teilnehmende Beobachtung im Sinne eines eingebetteten Zeitzeugen kontinuierlich steigen. Der ums Überleben Bemühte führt Stück für Stück in den Albtraum blutiger, rechtloser Konfusion voll Bedrängnis, Hetze und Krawall. Und weil in dieser Welt alles ungewiss wird, jedes Vertrauen sich auflöst, getroffene Vorsichtsmaßnahmen keine Garantie beinhalten, gibt sich der Tod totalitär.

Dasein im absoluten Feindesland

Bourne schuf mit seinem Bericht des Zivilisationsniederganges eine Art Lehrbuch der umhergreifenden Furcht, deren spätere Kapitel immer mehr zu einer Psychologie der permanenten Notwehr in untoten Gegenden mutieren. Das ist blutaufkochende Unterhaltung. Dabei kann der Sturz in den apokalyptisch-psychotischen Abgrund auch als Instruktion zur Prävention gelesen werden (man weiß ja nie um der Zukunft Gestalt), was auf das stimmige Ineinandergreifen der Phantasiebegabung Bournes mit seinem militärischen Praxiswissen zurückgeht. Quasi nebenbei lernt man die elementare Technik des Benzinabsaugens aus Autotanks und den Stellenwert von Sonnenkollektoren jenseits der Verbesserung der Ökobilanz. Ebenso ist zu erfahren wie Flaschenscherben mit Zementbinder an Mauern angebracht werden, weshalb es sich lohnt Morsezeichen zu beherrschen und Propankocher in jeden Haushalt gehören. Wo jede Lebensäußerung ein Risiko darstellt und emotionale Aufruhr die überwiegende Leibverfassung darstellt, wird die CAR 15 der beste Begleiter und benötigt in dem Maße vermenschlichende intensive Zuwendung. Im absoluten Feindesland werden Alltagsdinge zu Luxusgütern, Batterien zum Goldersatz, wenn nicht sogar mehr, ermöglichen sie doch die Wohltat von Meeresrauschen im MP3-Player während nächtlicher Unterbrechungen des Überlebensmarathons.

Stoff für die Selbstisolation

Keine Frage, TdA1 ist tolle, beschwingte Unterhaltung mit vielen Blutmomenten, voller Überraschungen, eine Unterweisung in Waffen und Tricks, wendungsreich, ein über Leichenwege führender Trip durch die USA im Wettlauf um Leben wie auch Verstand! Unsere moderne schrille Popkultur hat als psycho-immunologisch Reaktion auf die vielfältigen Beschädigungen der Natur durch Industrie und Wissenschaft sowie (weitgehend ungelöste) Gefährdungen der Sozialwelt mit radioaktiver Strahlung, allerlei Giften und ausufernden Gentechnik den Zombie über Jahrzehnte popularisiert und im Genre der lebenden Untoten als spielerisch-kritische Mahnung vielfach gekrönt. Tagebuch der Apokalypse – Teil 1 ist ein starker Vertreter dieser Szene. Und wer seinen Geschmack mit ihm getroffen sieht, der kann gleich zur Fortsetzung greifen und seine Lesezeitkonto mit guten Gewissen belasten. Schließlich wird in täglichen Pressegespräche zur heroischen Selbstisolation aufgefordert und bereits vor einer dramatischen Covid19-Welle im Herbst gewarnt…

 

Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Heyne.

 

Tagebuch der Apokalypse Book Cover Tagebuch der Apokalypse
Tagebuch der Apokalypse | 4 Teile
J.L. Bourne
Roman
Heyne
09. November 2010
Taschenbuch
336
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Tagebuch-der-Apokalypse/J-L-Bourne/Heyne/e354348.rhd
Ronald M. Hahn
8,99 €
978-3-453-52793-5

Wenn Mundschutz und Abstandhalten nicht mehr helfen: spannungsreicher Bericht übers Überleben am Ende aller Tage.