Interview mit Mirna Funk
Mirna Funk hat 2015 ihren Debütroman Winternähe veröffentlicht. Es ist ein Roman über eine deutsche Jüdin der dritten Generation, der Enkelgeneration des Holocausts. Winternähe wird häufig als klassischer Identitätssuche-Roman bezeichnet. Junge Jüdin auf der Suche nach sich selbst. Und zu einem gewissen Teil stimmt das natürlich auch. Aber Winternähe ist weitaus mehr. Wir folgen der Protagonistin Lola nicht nur durch Berlin, Tel Aviv sowie Thailand und wir folgen ihr auch nicht nur durch ihre Lebensgeschichte auf der Suche nach ihrem wahren Ich. Vielmehr reist Mirna Funk mit uns durch die deutsch-jüdische und deutsch-israelische Geschichte und Gegenwart. Und das bedeutet nicht zuletzt, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, der nicht ein ideales Selbstbild zeigt, sondern der die hässliche Fratze des realen Antisemitismus widerspiegelt. Das mag nicht allen gefallen, aber dabei hilft es, sich einfach mal in das Gegenüber zu versetzen. Einmal die Minderheitenperspektive einnehmen und nicht immer nur aus der gemütlichen Mehrheitsperspektive urteilen. Mirna Funk hat mit Winternähe jedem Interessierten die Möglichkeit in die Hand gegeben, Deutschland mit anderen Augen zu betrachten. Ohne Anklage. Aber auch ohne eine schonende und relativierende Guido Knoppisierung.
Koreander: Liebe Mirna, du hast kürzlich in „allmende – Zeitschrift für Literatur“ geschrieben, dass wenn du gewusst hättest, was alles auf dich zukommt, du Winternähe nie geschrieben hättest. Das ist eine ebenso erschütternde wie warnende Aussage. Wie ist es zu deiner Resignation gekommen?
Mirna Funk: Es ist eher so, dass ich nicht sagen kann, ob ich es geschrieben hätte oder eben nicht. Warnen wollte ich mit meinem Text in der allmende nicht. Nur vielleicht ein wenig den Optimismus drosseln. Wer nicht vom Gegenteil überzeugt werden will, den überzeugt man nicht. Das war vermutlich immer so und wird auch immer so bleiben. Das gilt für Antisemitismus genau so wie für alles andere.
K: Winternähe ist nicht nur ein Buch indem eine junge Frau jüdischer Herkunft auf ihre Identitätssuche geht. Vielmehr ist Winternähe auch eine Herausforderung an die Mehrheitsgesellschaft selber auf Identitätssuche zu gehen. Viele Deutsche wollen nichts mehr vom Nationalsozialismus oder dem Holocaust hören. Dabei möchte man meinen, viele haben offensichtlich viel zu wenig davon gehört – und noch weniger davon gelernt. Vielen Nicht-Juden ist dabei überhaupt nicht klar, was es bedeutet in einer jüdischen Familie bzw. als Jüdin aufzuwachsen, vielleicht kannst du denjenigen einmal kurz schildern, warum der Holocaust für viele Jüdinnen und Juden nicht einfach Geschichte ist.
M.F.: Weil der Holocaust gegenwärtig ist. Weil Geschichte nicht endet. Weil die Traumatisierungen meiner Großmutter, die überlebt hat, an meinen Vater weitergegeben wurden und auch an mich. Was damals den Juden angetan wurde, wird ihnen in veränderter Form weiter angetan. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es die transgenerationale Weitergabe von Traumata gibt.
Außerdem wäre ein bisschen Empathie schön. Aber die Deutschen haben leider die Opferrolle für sich gepachtet und dem Juden die Täterrolle zugeschoben. Anstatt Empathie zu zeigen, erwarten sie von den Juden in ihrem Umfeld Verständnis für das schwere Los Deutsche zu sein. Den Deutschen scheint es mit dem Holocaust schlechter zu gehen als den Juden. Gestern war ich bei einer Lesung und sagte, dass ich es leid bin Deutschen über den Kopf streicheln zu müssen, ob ihrer schweren Last. Dann meldete sich eine Deutsche im Publikum, aufgebracht und sagte, dass sie so etwas tief verletzen würde. Auch dass ich finde, die Deutschen setzten sich mit ihrer eigenen Geschichte nicht auseinander, würde sie schmerzen. Und schon wollte wieder eine Deutsche, dass ich zu ihr eile, um über ihren Kopf zu streicheln. Was sie nicht verstehen, ist, dass der Schmerz die halbe Familie und auch alles andere verloren zu haben, größer ist, als sich schuldig zu fühlen oder verantwortlich.
K: Viele Deutsche und dabei auch einige Juden sind der Meinung es gäbe in Deutschland keinen Antisemitismus mehr. Häufig mit dem vermeintlich erklärenden Beisatz: „Ich selbst wurde nie angefeindet:“ Das mag sein, vielleicht fehlt aber auch einfach das Verständnis dafür, welche Ausdrucksformen Antisemitismus annehmen kann. Was bedeutet es für kleine Kinder, wenn bereits der Kindergarten durch hohe Zäune umschlossen und von der Polizei bewacht wird? Was bedeutet es für einen Erstklässler, wenn er am ersten Schultag gefragt wird, warum er denn Jude sein möchte, wo doch der Hitler alle umgebracht hat? Was bedeutet es, wenn Menschen auf einen zukommen und fragen, ob sie einen denn mal anfassen dürfen, „man habe ja noch nie einen Juden berührt“? Ich habe in einigen Rezensionen und Kommentaren gelesen, die Beispiele, die du in Winternähe angeführt hast, seien zu konstruiert. Was möchtest du solchen Kritiken entgegnen?
M.F.: Dass die Beispiele in meinem Roman alle autobiografisch sind, und dass ich sie genau deshalb, weil ich vermutete, dass der Vorwurf der Konstruktion kommen wird, eingebaut habe.
K: Ich habe deinen Vorschlag zum Holocaust-Erinnerungstag gelesen. Das halte ich für eine großartige Idee. Kannst du noch einmal kurz erklären, was es damit auf sich hat?
M.F.: Es gibt den Holocaust-Rememberance-Day in Israel. Da geht zu einer bestimmten Uhrzeit eine Sirene los und alle Menschen im Land bleiben stehen und erinnern sich der Opfer. Zwei Minuten lang. Autos kommen zum Stilstand, Menschen bewegen sich keinen Millimeter. Ich finde, dass dieser Tag in Deutschland eingeführt werden sollte. Genau zum selben Zeitpunkt wie in Israel. Dann würde zwei Minuten lang in beiden Ländern der Opfer gedacht. Gemeinsames Erinnern ist heilsam.
K: Ich weiß, du hast in Interviews schon drauf geantwortet, dennoch muss ich da mal nachhaken. Die Geschichte von Lola wirkt dermaßen authentisch, dass ich immer wieder das Gefühl hatte, das ist doch nicht ausgedacht, das ist so detailgetreu, so wahr, dass kann sich doch keiner ausdenken, der es nicht selbst erlebt hat. Kurz: wie viel Mirna steckt in Lola?
M.F.: Es gibt Mirna, die Autorin; es gibt Mirna, die Privatperson und es gibt Lola, die Protagonistin meines Romans. Zwischen ihnen existieren Schnittmengen, aber alle drei sind unabhängige Personen.
K: Du hast Lola ziemlich viel Sex ins Leben geschrieben. Ich habe in meiner Rezension gemutmaßt, dass das eine bewusste Entscheidung war, weil du damit eine bestimmte (durchaus auch destruktive) Form der Stressbewältigung darstellen wolltest – quasi eine Form der Realitätsflucht. Oder ist es doch eher der Ausdruck kosmopolitischen und emanzipierten Lebens, im Sinne einer feministischen Aneignung des eigenen Körpers? Oder doch auch ganz anders?
M.F.: Es sind zwei Sachen. Zum einen wollte ich, genau wie du sagst, zeigen, dass Sex oft als autoaggressive Handlung herhalten muss. Das symbolisiere ich vor allem in ihrem Verhältnis zu Benjamin. Aber ich wollte auch zeigen, dass Sex sehr wohl der Moment ist, indem zwei Menschen sich tief verbinden. Das ist zwischen ihr und Shlomo der Fall. Abgesehen davon finde ich aber, dass eine Frau Sex haben kann, so viel wie sie will und auch so destruktiv wie sie möchte. Demnach stimmt auch deine zweite Vermutung, dass der Einbau der Sexszenen sehr wohl eine feministische Intension hatte.
K: Um dich mal von Winternähe in diesem Interview zu befreien, ein Schwenk auf etwas ganz Anderes. Ich finde es immer sehr spannend zu erfahren, was Autoren selber lesen. Wen liest du gerne und wen kannst du empfehlen, wenn man sich mehr für Israel und oder Judentum interessiert?
M.F.: Puh. Ich lese jetzt nicht viel zum Thema Israel und Judentum. Im Moment verschlinge ich Chris Kraus‘ „I love Dick“. Ein tolles feministisches Buch. So heutig geschrieben, obwohl es vor 20 Jahren erschienen ist und damals floppte.
K: Abschließend natürlich noch die klassische Frage: Kannst du schon etwas zu deinem neuen Buchprojekt sagen?
M.F.: Nein. Da bin ich abergläubisch.
K: Vielen lieben Dank Mirna! Ich bin sehr gespannt auf deine weiteren Arbeiten und wünsche dir und deinen Lieben alles Gute und natürlich viel Schaffenskraft.
Foto von Malene Lauritsen.