Interview mit Carolin Hagebölling
Carolin Hageböllings Debüt Der Brief ist Anfang Juni bei dtv erschienen. Ein außergewöhnlicher Roman, der sehr kontrovers bewertet wird. Angesichts eines Literaturbetriebs, der massenweise Bücher produziert, die den geringst möglichen Widerspruch erzeugen und damit den größt möglichen Gewinn versprechen, scheint mir das schon mal ein Gütekriterium zu sein. Aber natürlich ist es nicht nur die lebhafte Diskussion, die mich auf den Titel neugierig gemacht hat. Als Sozialpsychologe habe ich eine Vorliebe für ein Spiel mit Realitäten. Paul Watzlawicks „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ steht hier Pate für mein Faible.Entsprechend hat mich bereits der Werbeslogan getriggert: „Ein raffiniertes Spiel mit Realitäten“. Dann habe ich kurz in die Leseprobe reingelesen, aber sofort wieder abgebrochen, weil mir bereits nach den ersten drei, vier Seiten klar war: das Buch will ich lesen! Natürlich läuft ein Buch, das den Spannungsbogen bereits mit den ersten Seiten strafft, Gefahr, nach und nach langweilig zu werden. Carolin Hagebölling hat es aber geschafft viele Optionen, die das Spiel mit den Wahrheiten hergibt, aufzunehmen und so die Geschichte voranzutreiben und immerzu die Spannung auf hohem Niveau aufrecht zu halten. Das zeigt auch die Diskussion, die sich mehrheitlich um das Ende konzentriert. Und ohne etwas verraten zu wollen, sei gesagt, dass das gewählte Ende, meines Erachtens das Beste ist, das hätte kommen können. Alles andere hätte mich wohl enttäuscht. Und weil mich das Debüt dermaßen überzeugt hat, wollte ich auch noch ein wenig die Autorin des Buches kennenlernen.
Koreander: Liebe Carolin, wie lange hast du an deinem Debütroman gearbeitet? Und was hat dabei am längsten gedauert?
Carolin Hagebölling: Alles in allem habe ich ca. ein Jahr daran gearbeitet. Zunächst musste die Idee eine Weile reifen, dann standen die wichtigsten Eckpunkte und schließlich war da der rote Faden, an dem ich mich entlang gehangelt habe. Nicht ohne ihn zwischendurch zu verknoten, zu zerreißen, neu aneinander zu kleben und schließlich an beiden Enden zu verbinden. Dann war die Geschichte fertig. Was dabei am längsten gedauert hat, kann ich gar nicht so genau sagen. Vielleicht die Herausforderung, die einzelnen Teile so zusammenzufügen, dass kein anderer als der auserwählte Schluss möglich war. Dazu aber später mehr …
K.: Wie bist du auf die Grundidee deines Debüts gekommen? Über deinem Roman schwingt Seite für Seite die große Frage: Was wäre wenn? Was wäre aus dem eigenen Leben geworden, wenn man sich zu bestimmten Zeitpunkten anders entschieden hätte oder vielleicht auch einfach nur der Zufall minimal anders gespielt hätte. Da liegt die Vermutung nahe, dass der Roman aus der Midlife-Crisis geboren wurde (die ja mittlerweile auch Quarter-Crisis genannt wird, weil wir mehrere davon erleben, für Midlife bist du ja auch zu jung).
C.H.: Als ich den Roman geschrieben habe (das ist mittlerweile drei Jahre her – die Überarbeitung mit meiner Lektorin nicht dazugezählt), war ich in einer anderen Lebenssituation als jetzt, aber nicht in einer krisenhaften. Es ist tatsächlich eher so, dass ich mir oft und immer wieder die Frage stelle, was passieren würde, wenn man hier und da an einem anderen Rädchen drehen würde. Wie bewusst treffen wir eigentlich Entscheidungen? Welche kleinen Zufälle beeinflussen unser Leben? Wie viel Schicksal steckt in unserem Schicksal? Ohne dass ich mich philosophisch damit auseinandersetzen würde, finde ich dieses Thema hochspannend. Die Briefe waren letztendlich Mittel zum Zweck, um die Idee zu transportieren.
„Nichts ist langweiliger als der kleinste gemeinsame Nenner.“
K.: Die zwei großen Themen deines Romans sind Identität und Realität. Das sind nicht gerade die klassischen Themen der Unterhaltungsliteratur. Vielmehr sind das elementare Fragen der Philosophie und unserer Existenz. Inwiefern spielt hier dein Studium der Kulturwissenschaften eine Rolle?
C.H.: Ich könnte jetzt konstruktivistische Theorien bemühen, die wir in der einen oder anderen Soziologie-Vorlesungen behandelt haben. Aber das wäre konstruiert. Eigentlich habe ich einfach zu Papier gebracht, was mir durch den Kopf gegangen ist und mich persönlich beschäftigt – aus einer sehr subjektiven Perspektive. Eine Parallele zu meinem Studium könnte sein, dass ich dort gelernt habe, nicht eindimensional, sondern disziplinübergreifend zu analysieren und zu denken. Das Leben passt nicht in eine Schublade, genauso wenig wie der Roman und die Themen, die ich dafür gewählt habe. Identität und Realität sind in der Tat nicht die typischen Motive der Unterhaltungsliteratur. Aber warum eigentlich nicht? Ein großes Thema der Unterhaltung – die Liebe – entspringt doch genau aus diesen beiden Grundüberlegungen. Wer bin ich und warum liebe ich, wie ich liebe? Hätte ich auch anders sein und lieben können?
K.: Du sprichst in deinem Roman schwere Krankheiten, den Tod und Trennungen an. Du schubst deine Protagonistin Marie von einer emotionalen Krise in die nächste. Hattest du beim Schreiben kein Mitleid mit Marie?
C.H.: Ich denke, wir alle werden im Laufe des Lebens früher oder später mit den Themen Krankheit, Trennung und Tod konfrontiert. Im Roman verdichten sich diese Ereignisse – wodurch die Gesamtkomposition aufwühlend wirkt. Allgemein lässt sich zu den Protagonistinnen und Protagonisten sagen, dass sie vor allem die Aufgabe haben, die Idee zu transportieren und die Geschichte zu pointieren. Natürlich sollten es keine seelenlosen Figuren werden, gerade Marie ist in meinen Augen eine sehr ambivalente Persönlichkeit. Aber es ging mir nicht um eine Charakterstudie, sondern um einen möglichst stringenten Spannungsbogen. Dadurch widerfahren Marie in kurzer Zeit ziemlich viele schicksalshafte Ereignisse, die sie auf ihre Weise zu meistern weiß.
K.: Das Ende ist überraschend und außergewöhnlich. Wusstest du von Anfang an, dass du solch eine Geschichte schreiben wolltest oder hat sich das Ende erst beim Schreiben herauskristallisiert?
C.H.: Am Anfang des Buchs war das Ende. Es stand von Beginn an fest und ist deshalb unveränderlicher Bestandteil der Geschichte. Er macht in meinen Augen das Besondere des Plots und der Dramaturgie aus. Wenn es am Ende eine logische Erklärung gegeben hätte, wäre es ein Thriller oder eine Liebesgeschichte geworden. Eine Schubladen-Geschichte. Die zu schreiben, hätte mich nicht gereizt. Ohne dieses Ende gäbe es die Geschichte schlichtweg nicht. Das muss ich leider auch den Leserinnen und Lesern sagen, die damit nicht so glücklich sind.
K.: Gerade für das Ende hast du viel Kritik einstecken müssen. Was würdest du den Kritikerinnen gerne sagen?
C.H.: Jede*r hat das Recht, ein Buch nach ganz persönlichen Geschmackskriterien zu beurteilen. Ich habe auch schon den einen oder anderen hochgelobten Roman gelesen und hinterher gedacht: Hmm. Ich würde also versuchen, mich nicht zu rechtfertigen, sondern die Kritik anzunehmen. (Auch, wenn mir das manchmal schwerfällt, weil es eben doch etwas sehr Persönliches ist.) Grundsätzlich halte ich es für erstrebenswert, ein Werk zu schaffen, das polarisiert. Nichts ist langweiliger als der kleinste gemeinsame Nenner.
In dem Zusammenhang mit deiner Frage fällt mir noch eine nette Anekdote ein. In einer der Rezensionen fiel der Satz „Das ist weder Fisch noch Fleisch“. Eine Freundin, der ich das erzählte, hatte eine wunderbare Antwort: „Ich esse sowieso am liebsten vegetarisch.“ Etwas Besseres hätte ich nicht entgegnen können.
Mit Ronja Räubertochter durch den Wald
K.: Paris spielt in deinem Roman eine besondere Rolle. Wieso Paris? Was verbindet dich mit der Stadt? Und warst du selbst in den Katakomben von Paris, die meines Erachtens eine Schlüsselrolle im Roman einnehmen?
C.H.: Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, die Katakomben zu besichtigen. Das wird natürlich nachgeholt, wenn ich wieder nach Paris komme. Die Beschreibungen, die im Buch auftauchen, basieren auf Recherchen. Paris habe ich als zweiten Schauplatz gewählt, weil die Stadt einen guten Gegenpart zu Hamburg darstellt. Norddeutsch-bodenständig versus romantisch-mondän-verzaubernd. Etwas klischeehaft formuliert. Mir war wichtig, dass die beiden Welten, die miteinander kollidieren, möglichst gegensätzlich sind: Johanna – Victor, Hamburg – Paris, Kunstszene – Alltag (nicht wertend gemeint). Andere Konstellationen wären denkbar gewesen, hätten aber unter Umständen nicht die gleiche Klarheit und Prägnanz gehabt. Wer Hamburg und Paris hört, hat sofort Bilder vor Augen, die man nicht erst erklären muss. Das kommt der komprimierten Spannung des Romans entgegen.
K.: Dein Roman scheint in Richtung „Frauenliteratur“ gedrängt zu werden. Kaum gibt es eine Protagonistin, dann auch noch lesbisch, wird die Schublade aufgemacht. Siehst du deinen Roman selbst als Frauenliteratur?
C.H.: Ich sehe meinen Roman als genreübergreifend. Und als Schnittmenge aus Unterhaltung und Literatur. Aber diese Kategorie existiert im Buchhandel leider nicht. Um eine große Leserschaft zu erreichen, kann ich also durchaus verstehen, dass DER BRIEF unter „Frauenliteratur“ verortet wird. Wobei ich schon ein Problem mit dem Begriff an sich habe. Was ist denn dann „Männerliteratur“? Letztendlich können wir uns aber wohl alle nicht davon freisprechen, in Kategorien zu denken. Sie geben Sicherheit und vereinfachen Entscheidungen. Wenn ich weiß, dass Onkel Peter gerne Krimis liest, werde ich ihm zum Geburtstag wohl kaum eine romantische Komödie schenken. Aber ich könnte ja mal darüber nachdenken, warum.
K.: Ich hatte kurz bevor ich dein Buch gelesen hatte, Michael Endes „Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth.“ gelesen. Eine Sammlung von surrealen, (alp)traumhaften Kurzgeschichten. Ohne etwas aus deinem Roman spoilern zu wollen, hatte ich aber durchaus das Gefühl, dass du in der Tradition des Surrealen oder zumindest der Mystery und des Suspense zu Hause bist. Gibt es Romane oder Autoren, die dich besonders beeinflusst oder geprägt haben?
C.H.: Das Buch von Michael Ende habe ich als Jugendliche gelesen. Die Geschichte von Hor ist mir in schauriger Erinnerung geblieben. Aber immerhin: Sie ist mir in Erinnerung geblieben. Das Surreale, Unbegreifliche hat etwas beklemmend Faszinierendes. Sie konfrontiert uns damit, dass wir als hochintelligente Wesen letztendlich doch nicht alles erklären können. Ist es nicht geradezu anmaßend, zu glauben, dass die Welt genau so ist, wie wir sie wahrnehmen? Trotzdem sind das Themen, die ich in meinen Lesegewohnheiten bisher nur am Rande gestreift habe. Deswegen kann ich auch nicht behaupten, dass ich in der Tradition des Surrealen oder des Suspense zu Hause bin. Oder ein konkretes Vorbild für den Roman hatte. Ich denke, es war wie so oft im Leben ein Sammelsurium an (unbewussten) Einflüssen und Erfahrungen, die dazu geführt haben, dass der Roman so ist wie er ist.
K.: Wo wir gerade dabei sind: Was liest du gerade? Und was würdest du als unbedingt mal lesenswert empfehlen?
C.H.: Gerade habe ich mit „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino begonnen. Eine Freundin hat mir den Roman empfohlen, weil sie meinte, es gäbe gewisse Parallelen zu meiner Geschichte. Ich bin gespannt. Unbedingt lesenswert? Schwer zu sagen. Vieles! Ich habe keine*n Liebelingsautor*in und vergesse leider auch oft, was ich wann von wem gelesen habe. Vor ein paar Wochen ist mir „Fleisch“ von Simone Meier in die Hände gefallen, den Roman fand ich gut. „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky ist ein fantastisches Buch, genauso wie „Der Trafikant“ von Robert Seethaler. Wenn du mich fragen würdest, welche Bücher mich am meisten geprägt haben, wäre die Antwort eindeutig: Kinderbücher! Mit Ronja Räubertochter durch den Wald zu streifen und Momo auf der Suche nach der gestohlenen Zeit zu begleiten vergisst man ein Leben lang nicht.
K.: Abschließend noch die obligatorische Frage nach einem neuen Roman. Arbeitest du bereits an deinem zweiten Buch? Und wenn ja, magst du etwas darüber verraten?
C.H.: Die Idee steht und ist auch bereits in der Umsetzung. Auch dort geht es um eine Protagonistin, die vor schicksalshaften Entscheidungen steht. Ansonsten ist der Roman thematisch und dramaturgisch anders als der aktuelle. Für Kontroversen wird er mit Sicherheit auch sorgen, aber eher in Bezug auf den Inhalt als auf die Form. Es wird jedenfalls nicht langweilig. Versprochen.
K.: Vielen lieben Dank für deine Antworten! Wir lesen uns spätestens bei deinem nächsten Buch!
C.H.: Sehr gerne.
Foto ©Martin Hangen
Carolin Hagebölling – Der Brief