cover das schwarze paradies
Roman:
Ida Hegazi Høyer
Preis:
20,- €

Rezension von:
Bewertung:
5
1. August 2018
Letzte Änderung:31. Juli 2018

Hier bohren sich Geschichte und Sprache tief in die Herzen der Leser*innen.

Das schwarze Paradies

Was um Himmels Willen habe ich da gerade gelesen? Ein Zahnarzt, der sich selbst alle Zähne zieht, weil er die als angehender Vegetarier sowieso nicht mehr brauchen wird. Ein Misanthrop und Fortschrittsfeind, ein zivilisationsmüder Phantast, der als Aussteiger allein auf einer Insel am Ende der Welt leben will. Ein Hochstapler, dessen intimste Beziehung zu einer Riesenechse besteht. Und noch mehr Aussteiger, Abenteurer, Neurotiker, Romantiker, Gescheiterte, Aufschneider und am Ende viele Tote. Das schwarze Paradies von Ida Hegazi Høyer ist ein fulminanter Roman. Es ist nicht nur die vollkommen verrückte Geschichte, die sofort fesselt, sondern die intensive Sprache, die unvermittelt von der ersten Seite an in den Abgrund menschlicher Tiefen führt.

Dr. Ritter verabscheut die Gesellschaft von Menschen, mehr noch er verabscheut die Gesellschaft. Gleichzeitig heischt er nach der Bewunderung der Massen, geriert sich als Philosoph und schreibt von seinen Emeritenplänen in Zeitungen und Zeitschriften. Schließlich gelte es zu beweisen, dass man Fernab der Zivilisation mit vegetarischer Ernährung und ohne die Gifte der Moderne viel besser auskommen würde.

„Wenn man alleine lebte. Wenn man einen Naturalienhaushalt betrieb. Wenn man nur vegetarisch aß. Und wenn man immer nackt war. Dann könnte man leben, bis man 140 Jahre alt wurde.“

Was zu beweisen wäre. Und so macht sich Carlo Ritter auf die viermonatige Reise zu den Galapagosinseln. Ein totaler Verzicht kann es natürlich nicht sein, niemand kann ohne die notwendigsten Hilfsmittel auf einer einsamen Insel überleben und so nimmt Ritter 345 Kilogramm Gepäck mit. Unter anderem natürlich Samen, die es in der neuen Heimat anzupflanzen gilt.

Robinson auf Drogen

Ist das ein Abenteuerroman? Die Geschichte eines modernen Robinsons oder doch eher eines verrückten Diogenes? Nicht nur dass Ritters große Pläne in kürzester Zeit scheitern, es kommt immer schlimmer und schlimmer. Er verliert einen Teil seiner Ausrüstung, bis auf Tomaten will auf der Steininsel nichts wachsen, seine Fähigkeiten ein Haus zu bauen hat er grandios überschätzt und bereits wenige Tage nach Ankunft muss er bereits sein vegetarisches Vorhaben aufgeben, wenn er nicht verhungern möchte.

„Eine Höllenreise ins Paradies war dies, eine Unwirklichkeit, die immer wirklicher wurde, je weiter sie auf ihrer Reise kamen. […] Es war so leer hier. Leer wie nach einem Unwetter. Leer wie nach einem Verlust. Leer wie bei der Begegnung mit einem Raubtier, in dieser Sekunde, direkt davor.“

Von seinem eigenen Größenselbst geblendet, schreibt er Briefe voller Phantastereien seiner eigenen Farm mit gut gehenden Plantagen an die Heimat. Die Briefe werden in Zeitungen veröffentlicht und locken, wie könnte es anders sein, weitere Aussteiger an. Was Ritter kann, das können schließlich auch andere. Uns so treffen nach und nach ein Ehepaar mit einer schwangeren Frau ein und später eine selbsternannte Baroness mit ihren fünf Liebhabern.

Wem diese skurrile Szenerie noch nicht reicht, dem wird noch mehr geboten. Am Ende gibt es reichlich Tote.

Ida Hegazi Høyers Das schwarze Paradies ist ein Roman, der im Bewusstsein bleibt. Keine Massenware, die man wegliest und sich später kaum mehr an den Titel erinnert. Die Erzählweise und der Sprachstil sind mitunter beeindruckend, manchmal herausfordernd und immer tief bewegend. Wer sich von der Geschichte gefangen nehmen lässt, bekommt ein einzigartiges Lesevergnügen, mit zahlreichen Überraschungen und schrägen, wirren und ausgefallenen Momenten. Eine seltsame Intimität durchzieht den Roman. Es ist eine Intensität der Beschreibungen, der Wörter und Gefühle, die direkt ins Herz der Leser*innen führt. Aber Vorsicht, nicht alles was man dort entdeckt, wollte man vorher auch wissen.

„Als sie ihn sahen – nie hatten sie einen solchen Menschen gesehen.

Als er sie sah – nie wurden sie auf solche Weise gesehen:“

Realität und Fiktion

Und als sei die Geschichte nicht schon absurd genug, offenbart Ida Hegazi Høyer am Ende, dass es sich nicht um reine Fiktion handelt, sondern dem Ganzen reale Begebenheiten zugrunde liegen. Was? Wie bitte? Und tatsächlich, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war das eine riesen Boulevardgeschichte in Deutschland. Bekannt geworden ist sie unter dem Namen Die Galápagos-Affäre.

Høyer erzählt die Realität aber nicht einfach nach, sondern entkleidet sie einiger Besonderheiten, schreibt sie zu einer universalen Geschichte um. Es geht um Persönlichkeiten, Charaktere, Psychen, Individuen die aufeinandertreffen, Bedürfnisse, Begierden, Leidenschaften, Glauben, Gruppendynamiken, Eifersucht, Stolz, Gier und Neid. Selbst den Aussteigern ist nichts Menschliches fremd. Und während Deutschland die Nationen in den nächsten großen Krieg zerrt, bekriegen sich ein paar deutsche Auswanderer auf einer einsamen, verlassenen Insel im Nirgendwo selbst. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Mustread!

Natürlich kann man sich darüber echauffieren, dass sich Høyers Geschichte zu weit von den tatsächlichen Geschehnissen entfernt. Aber angesichts dessen, dass dies Affäre heute kaum noch jemandem bekannt ist, weckt der Roman eher Interesse an selbiger und ist gleichzeitig ein unabhängig davon wirkender Roman. Bei mir hat es jedenfalls genau so funktioniert.

Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt beim Residenz Verlag.

Das schwarze Paradies
Ida Hegazi Høyer
aus dem Norwegischen übersetzt von Alexander Sitzmann
224 Seiten
Preis: 20,-
Verlag: Residenz Verlag
ISBN: 9783701716869