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Volk im Wahn

Lange galt in Deutschland das Diktum „Nie wieder!“ in der Nachfolge der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Dabei ist „Nie wieder!“ nur die verkürzte Parole von „Nie wieder Krieg!“ oder „Nie wieder Auschwitz!“. Wobei letzteres ebenfalls die Parolisierung eines viel weitreichenderen Sinnzusammenhanges ist. In Erziehung nach Auschwitz schrieb Theodor Wiesengrund Adorno: „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen.“ Man kann den Satz „Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern“ gar nicht oft genug wiederholen.

Es ist eine universelle Sentenz! Was für den konkreten Fall Deutschland gilt, gilt für alle Zivilisationsbrüche, für alle Barbareien zu denen Menschen fähig sind. Gerade jetzt, während Russland einen faschistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt, ist es elementar sich dessen bewusst zu sein. Und zwar ohne in projektive Abwehr zu verfallen. Zumal ein nicht geringer Teil der Deutschen auch jetzt wieder ein Volk im Wahn ist. Verschwörungserzählungen, Antisemitismus, autoritäre Ideologien aber auch Gewalthandlungen finden (wieder) Eingang in breite Teile der Bevölkerung. Helmut Ortner Essayband „Volk im Wahn. Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen.“ Widmet sich den Kontinuitäten der nationalsozialistischen Vergangenheit und liefert damit unter anderem einen Erklärungshinweis, warum auch heute wieder menschenfeindliche Ideen so schnell Anknüpfungspunkte in der Bevölkerung finden.

Land ohne Täter

Mit der Stunde Null gab es in Deutschland plötzlich keine Täter mehr. Jede*r wollte von Nichts gewusst haben. Oder man war nur Befehlsempfänger oder gar im (inneren) Widerstand. Die Deutschen verführt von einer kleinen faschistischen Clique personifiziert in Hitler. Der war’s. Wir nicht. Was heute unfassbar klingt, war nach Kriegsende normal und hat tatsächlich auch weitestgehend funktioniert. Kollektive Amnesie, um zur kollektiven Amnestie zu kommen. Selbst im Angesicht der unvorstellbarsten und grausamsten Verbrechen haben es unzählige Deutsche geschafft, sich dermaßen selbst zu belügen, dass sie sich für Opfer des Krieges gehalten haben. Man selbst könne ja nicht böse sein. Nicht einmal die direkten Täter, haben sich schuldig gefühlt, wie man in der schon fast in Vergessenheit geraten großartigen Dokumentation „Drei Deutsche Mörder. Aufzeichnungen über die Banalität des Bösen“ oder noch frappanter in der genialen Dokumentation „The Memory of Justice – Nicht schuldig?“ von Marcel Ophüls sehen kann. Die Täter-Opfer-Umkehr hat eine lange deutsche Tradition.

Zwar hat Deutschland seine Geschichte beispiellos aufgearbeitet, dies bedurfte aber allem voran der sogenannten 68er Generation, die sich nicht mit den Standardfloskeln der Täter*innengeneration abfinden wollte. Die Aufarbeitung konnte häufig nur gegen extreme Widerstände durchgeführt werden und vieles blieb auch weiterhin im Dunkeln. Geschützt, gedeckt und verheimlich von den alten Tätern. Gerade die deutsche Justiz wies eine erschütternde Kontinuität auf, die aber nie gerichtet wurde. Wer hätte dies auch tun können? Alte Kameraden und ideologische Volksgenossen hatten kein Interesse sich gegenseitig zu verurteilen. Rühmliche Ausnahmen wie Fritz Bauer, konnten kaum das gesamte deutsche Justizwesen im Alleingang aufarbeiten und entnazifizieren. In den letzten Jahren, jetzt wo keine Täter mehr leben, wird auch zunehmend die Justiz ins Visier genommen. Auch Ortner legt den Fokus auf die Verbrecher in Roben, die ihre Hände in Unschuld wuschen mit der zynischen Aussage: „Was damals Recht gewesen sei, könne heute nicht Unrecht sein“.

„Wir waren Hitlers Opfer“

Man muss sich die Zahlen vor Augen führen. Für die grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus, für Kriegsverbrechen, Massenhinrichtungen, den Holocaust, Menschenversuchen und millionenfachem Tod und Leid wurden in Deutschland nach 1945 gerade einmal 6.656 Personen verurteilt. Die meisten davon erhielten Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ein Krieg und Völkermord ohne Täter. Auch eine deutsche Spezialität. Bundesrichter, Ministerialbeamte, Kanzleramtssekretär und sogar Ministerpräsident konnte man im entnazifizierten Deutschland werden, obwohl man dem Nationalsozialismus treu gedient hatte und sogar Todesurteile zu verantworten hatte, Massenmord beging oder gar an der Endlösung der Judenfrage beteiligt war. Nicht nur der Tod ist ein Meister aus Deutschland, auch Verleugnung und Verharmlosung suchen ihresgleichen.

Die Justiz sprach sich selber aller Schuld frei. Selbst der Volksgerichtshof, ein Terrorinstrument des Nationalsozialismus, sollte sich der Aufarbeitung und Verurteilung entziehen. Helmut Ortners Sammlung ist vielleicht nicht innovativ oder erzählt in Gänze nicht viel Neues und dennoch ist sie fundamental wichtig und immer wieder erschütternd. Die Zusammenschau der Ungerechtigkeiten und Kontinuitäten zeigt ein katastrophales Bild der deutschen Geschichte und insbesondere der deutschen Rechtsprechung. Dabei sind die Auswüchse nicht einfach in der längst vergangenen Nazizeit zu finden. Noch 1988 diskutierte man (und auch heute dürfte es dazu keine eindeutige Meinung geben), ob Wehrmachtsdeserteure Vaterlandsverräter seien oder ihnen ein Denkmal gesetzt werden solle. Demokratie und Menschenrechte sind fragil. Auch und gerade in Deutschland. Helmut Ortners Buch ist Warnung und Mahnung. Und kommt gerade zur rechten Zeit!

Eine Leseprobe gibt es bei der Frankfurter Rundschau, die einen Vorabdruck veröffentlichte.

Volk im Wahn direkt bei Edition Faust bestellen.

 

Volk im Wahn. Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen Book Cover Volk im Wahn. Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen
Helmut Ortner
Sachbuch
Edition Faust
März 2022
Klappenbroschur
296
https://editionfaust.de/produkt/volk-im-wahn/
22,00 €
978-3-949774-04-1

"Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern." Ortners Essays sind Warnung und Mahnung!