Eros und Thanatos als Triebkräfte des Denkens. Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven.
„Wahn und Lüge, vulgärer Zynismus, nacktes Machtkalkül und unverantwortliche Simplifizierung beweisen erneut ihre Geschichtsmächtigkeit.“ Dieser Auszug aus der „Rede des Jahres“ von Peter Strohschneider, dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ist nicht nur Kern seines Vortrages „Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus“, sondern könnte ebenso Teil einer Ankündigung von Eros und Thanatos als Triebkräfte des Denkens sein. Mehr noch, Buch und Vortrag widmen sich ähnlichen Themen und sind durch das gleiche Unbehagen am Zeitgeist motiviert.
Eros und Thanatos, Lebenstriebe und Todestrieb, nannte Sigmund Freud die sich gegenüberstehenden Motivationen des menschlichen Verhaltens und Empfindens. Während Eros nach Zusammenhalt und Vereinigung strebt und damit für das Lebendige steht, strebt Thanatos nach Auflösung, nach Rückkehr zum Unbelebten und steht damit für das Tote. „Vor rund hundert Jahren fand sich Sigmund Freud in überdeutlicher Schärfe ‚Auge in Auge‘ mit diesem tödlichen und teuflischen Geist, der stets verneint, der alles, was entsteht, zugrunde gehen sehen will: in der äußeren Realität des Ersten Weltkrieges und in der inneren Realität seiner Patienten. Er nannte ihn den Todestrieb.“
Dabei sind die Begriffe von Freud für den Soziologen, Sozialpsychologen und Gruppenanalytiker Hans-Peter Waldhoff lediglich Ausgangspunkt und Leitlinien an denen das Denken entlangführt. Wissen ist diskursiv. Und nur im Austausch von Gedanken, Meinungen, Ideen und Empfindungen entsteht Neues und vor allem dem Gegenstand des Denkens angemesseneres Wissen. Nur im Austausch können wir neu denken und überhaupt denken. Waldhoff nimmt den Dialog ernst und setzt sich mit einer Reihe großer Denkerinnen und Denker auseinander. Hannah Arendt, Thomas Mann, Ludwik Fleck, Norbert Elias, Erich Fromm, George Devereux, Zygmunt Baumann, Mario Erdheim, Didier Eribon, Theodor Adorno, Thomas Piketty, Immanuel Kant, um nur einige zu nennen. Aber Waldhoff denkt nicht nur mit den großen Intellektuellen, er bezieht die Gedanken auch immer wieder auf gegenwärtige gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen. Und das ist es, was das Buch so außergewöhnlich wertvoll macht auch jenseits des akademischen Diskurses.
Will man die Taten verstehen, muss man das Denken verstehen
Waldhoffs Essay ist keine rein fachspezifische Abhandlung wie es der Untertitel Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven zu suggerieren vermag. Vielmehr ist es ein Beitrag die herrschende Kultur mithilfe der sokratischen Methode, mithilfe des Dialogs, neu zu denken. Dabei sind die wissenschaftlichen Begriffe und Theorien die Werkzeuge, mit denen das Geschehen in vivo analysiert und verstanden werden kann. „Wie reißende Unterströmungen sehe ich die Triebkräfte des Lebens und des Todes, von Eros und Thanatos, dem Fluss all unseres Denkens und Wahrnehmens zugrunde liegen.“
Dabei ist Denken vorbereitendes Handeln, weshalb auch die Handlungsperspektive von Waldhoff immer wieder reflektiert wird. Herrschaftsdenken oder auch terroristisches, gewaltförmiges Denken mündet schließlich in Taten. Will man die Taten, das Handeln verstehen, muss man das Denken und Empfinden verstehen. Wobei Verstehen selbstverständlich kein Rechtfertigen bedeutet, sondern Bedingung der Möglichkeit zum Erklären ist.
Wie können wir z.B. rechtsextreme, nationalistische oder islamistische Fanatiker und Gewalttäter verstehen? Was auf der Handlungsebene als Mord, Terror und Totschlag daherkommt, ist auf der Ebene des vorwegnehmenden Handelns, des Denkens, genau dieses eben nicht. Waldhoff nennt es Denkverweigerung, Nichtdenken oder abtötendes Denken. Es ist die Verweigerung von Empathie und Reflektion. Es ist die Verweigerung des Nachdenkens über Zusammenhänge, Ursachen und Konsequenzen, es ist die Verweigerung des Diskurses, die Verweigerung der Argumente und damit die Verweigerung und Aufkündigung des Grundkonsenses einer aufgeklärten, friedlichen Demokratie, in der das Wort, das Schwert ersetzt hat.
In Zeiten von Fake-News ist der Essay ein Beitrag, die tieferliegenden individual- wie sozialpsychologischen Bedingungen dieser alternativen Realitätswahrnehmungen zu ergründen. So hätte der Essay auch heißen können Triebkräfte des Nichtdenkens. Denn Waldhoff schreibt vor allem gegen diese destruktive Seite, gegen diese Alles verneinende Wiederkehr der conditio humana, an. Wie Ödön von Horváth in Jugend ohne Gott schrieb: „Daß diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, wär zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, daß sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen! Alles Denken ist ihnen verhaßt.“ Man ahnt bei Waldhoff eine ähnliche Motivation, nur dass „diese Burschen“ keine Schüler sind, wie bei von Horváth, sondern ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft und ein unbewusster aber desto wirkmächtigerer Teil in uns selbst.
Die Banalität des Bösen
Gefährlich wird das abtötende Denken, weil es die Verneinung der pluralistischen, offenen Gesellschaft und der Zwang zur Vereinheitlichung, Uniformierung und Vereinfachung ist. „Der Trieb zum weniger Differenzierten und speziell zum Leblosen zurückzukehren, mit anderen Worten, Zusammenhänge und Synthesen aufzulösen, bewirkt einen Hang zur Auflösung von Gedanken, eine Sehnsucht nach Gedankenlosigkeit, die Thomas Mann mit Grausamkeit in Verbindung bringt und Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen.“
Es sind die Terrible Simplificateur, die schrecklichen Vereinfacher, wie sie Viktor Frankl nannte. Und die eigentliche Botschaft, die diese Nihilisten, die alles Positive Verneinenden, verbreiten, ist: „Wir sind lebendig und ihr seid tot, und sobald die Machtverhältnisse es erlauben, werden wir euch zeigen wie tot ihr seid.“ In Anbetracht von Wutbürgern, Hassrede, Denunziation, Verleumdung aber auch Entmenschlichung und Vernichtungsphantasien nicht nur in den Kommentarbereichen im Internet, sondern seit kurzem bis hinein in den Bundestag, erscheint die Diagnose von Waldhoff leider nicht übertrieben. „Die Rede ist vom Abgrund des abtötenden Denkens, jener Vorhölle zur schleichenden Vernichtung der eigenen Menschlichkeit und, wo sich die Gelegenheit bietet, zur Vernichtung der eigenen Person oder Anderer.“
Waldhoff greift bekanntere Begriffe wie Entfremdung, Verdinglichung, Reduktionismus oder Entmenschlichung auf und denkt sie konsequent weiter und verdeutlicht mit seinem Begriff der Abtötung „ihren potentiell mörderischen und selbstmörderischen Charakter.“ Damit ist es ein Beitrag, der weit über ein psychoanalytisches Interesse hinausreicht. Es ist eine unabdingbare Kultur- oder Gesellschaftskritik. Es ist ein Aufrütteln, der in Katatonie verharrenden Mehrheitsgesellschaft. Ein Analysenangebot für diejenigen, die verstehen wollen wie und warum Wahn und Lüge zu einem Machtfaktor sozialer Bewegungen werden können.
Es ist allerdings auch eine Generalabrechnung, ein von schnellen Assoziationen getriebener Schreibstil, an dem nicht immer zugleich auch die Assoziationen der Leser*innen anknüpfen dürften. Ein so dicht geschriebenes Essay verlangt geradezu mehrmals gelesen zu werden. Und ganz im Sinne der Intention des Buches, erfordert es ein Nachdenken über das Gelesene.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Velbrück.
Eros und Thanatos als Triebkräfte des Denkens. Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven.
Hans-Peter Waldhoff
Paperback, Klebebindung
131 Seiten
Verlag: Velbrück Wissenschaft
Preis: 24,90 €
ISBN: 9783958321373