Lincoln im Bardo
Wie ich gerade erst schrieb, versuche ich so wenig wie möglich über ein neues Buch im Vorhinein zu erfahren. So auch bei George Saunders‘ Lincoln im Bardo. Ich hatte die Vorankündigung gesehen, den kurzen Klappentext gelesen und im Zusammenhang mit dem Begriff Bardo, war eigentlich klar, dass ich das Buch lesen wollte. Es sollte also um Abraham Lincolns Sohn Willie gehen, der mit elf Jahren an Typhus gestorben war, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg. (Und für den amerikanischen Bürgerkrieg bin ich seit John Jakes ‚North and South-Trilogie‘, besser bekannt als Verfilmung ‚Fackeln im Sturm‘, quasi Experte.) Der Vater konnte den Verlust nicht verwinden und ging mehrere Male nachts auf den Friedhof, um seinen Sohn in den Armen zu wiegen. Es sollte um Geister gehen, denn Willie befände sich im Bardo, im Zwischenreich. Schon tot, aber noch nicht übergegangen – wohin auch immer. Und es sollte um die Frage gehen: „Warum lieben wir, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?“
Was für ein Sujet. Da bin ich schon infiziert noch bevor ich das Buch überhaupt aufgeschlagen habe. Und dann das. Dieser Roman. Gerühmt mit dem Man Booker Preis. New York Times Bestseller. Spiegel Bestseller. Aber was lese ich da? Wer sind die Protagonisten? Was sind die Protagonisten? Und plötzlich Zitate. Zitate. Zitate. Seitenweise literarische Verweise. Bis ich verstanden habe, dass diese die Geschichte ebenso vorantreiben, habe ich die Gesamtschau auf die Erzählung schon aus den Augen verloren. Also einfach nochmal von vorne. Jetzt nicht irritieren lassen von diesem offensichtlich so ganz anderen Roman als alle anderen, die ich bisher gelesen haben. Da unterhalten, oder besser erinnern sich also vornehmlich Geister oder Tote oder im Zwischenreich ‚Lebende‘ miteinander. Sie berichten vielmehr von den Ereignissen jener Tage. Und ebenso wie die Geister berichten, so berichten auch die Tagebücher, Zeitungen oder sonstige echte wie erfundene zeitgeschichtliche Dokumente über diese kurze, unscheinbare Phase aus dem Leben Abraham Lincolns.
Der Tod steht ihm gut
Das ist zuerst äußerst gewöhnungsbedürftig und, wenn man andere Rezensionen liest, offensichtlich nichts für jeden*n. Aber es lohnt sich dran zu bleiben, nicht sofort zu verurteilen, sondern sich mit offenem Geist auf eine neue Leseerfahrung einzulassen. Denn was sich da langsam herauskristallisiert, ist eine grandiose Manifestation der Menschenkenntnis und -beobachtung. Die verschiedenen Sprachstile, die Saunders nutzt, um seinen Figuren mehr Authentizität zu geben, sind so dermaßen glaubwürdig, dass ich mich immer wieder dabei ertappt habe, nicht zu wissen, was denn nun erfunden und was zitiert sein könnte. Und hier sei auch mal der Übersetzer gelobt. Der Text ist alles andere als leicht oder normal. Aber was Frank Heibert hier leistet, ist gar nicht genug zu würdigen. Eine Symbiose von Herz und Verstand des Autors und Herz und Verstand des Übersetzers.
Zwei Rauchwölkchen hatten sich verliebt.
Ich hielt ihn fälschlich für etwas Festes, dafür muss ich jetzt bezahlen.“
Diese zentrale Erkenntnis des Buddhismus, alles verändert sich, alles ist im Wandel, habe ich noch nie so wundervoll in Worte gefasst gelesen.
Lincoln im Bardo ist eine Herausforderung. Es ist ein so ganz anderes Buch, was mit Sicherheit auch daran liegt, dass Saunders eigentlich Autor von Kurzgeschichten ist. Die episodische Schreibweise erkennt man wieder. Man wird aber belohnt mit einem Leseerlebnis, dass man so bisher nicht hatte und kannte. Einige Stellen sind, ob der Thematik allerdings überraschend explizit und heftig ausgefallen. Bürgerkrieg und Sklaverei sind eben nicht nett zu verpacken. Das sollte man vorher wissen. Aber es sind auch nur kurze Abschnitte. Im Wesentlichen geht es um das Leben, um das Festhalten, um Liebe und Tod. Aber so hat man es noch nie aufbereitet bekommen.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei btb.

Roman
btb
11.11.2019
Taschenbuch, Klappenbroschur
448
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Lincoln-im-Bardo/George-Saunders/btb/e560958.rhd
Frank Heibert
12,- €
978-3-442-71897-9

Diese zentrale Erkenntnis des Buddhismus, alles verändert sich, alles ist im Wandel, habe ich noch nie so wundervoll in Worte gefasst gelesen.