Ein Sommer in Corona del Mar
Kann irgendjemand einen Menschen richtig kennen? Auch wenn es die besten Freunde, die besten Freudinnen von Kindheitstagen an waren? Können wir hinter die Masken gucken, die wir Menschen im Laufe unseres Lebens zu tragen lernen? Was wissen wir schon als Kinder und Jugendliche voneinander, liegt doch noch der Schleier der infantilen Phantasien und später die jugendliche Ignoranz über unseren Wahrnehmungen.
Mia und Lorrie Ann wachsen in Corona del Mar, Kalifornien, auf. Rufi Thorpe lässt die beiden Mädchen aber nicht im stereotypen reichen Amerika ihre Jugend verbringen, sondern im realistischeren Amerika. In den USA in denen viele Menschen in Armut leben oder am Rande der Gesellschaft. Corona del Mar war so ein Ort. Hier lebten die mehr oder weniger Gescheiterten. Hier gab es nicht die schönen Einfamilienhäuser der typischen Vororte, wie man sie aus zahlreichen Hollywood Filmen kennt. Hier lebten nicht die immer glücklichen Familien, mit ihren immer braven Kindern. Hier wurden die Teenager-Mädchen schwanger und trieben heimlich ab.
Rufi Thorpe beginnt den Roman mit der Gegenüberstellung der beiden Mädchen. Es gibt die Hübsche und Kluge und es gibt die verruchte Göre. Es gibt die immer Gute und die Rabaukin. Die, die immer alles richtig macht und die, die alles was sie anfasst, irgendwie falsch zu machen scheint. Und Mia vergöttert Lorrie Ann geradezu. „Es ließ den Wunsch in mir aufkommen, ich könnte in ihren Kopf klettern. Als wäre das Innere von Lorrie Ann der interessanteste Ort der Welt, ein wahrhaftes Shangri-La.“
Die Illusionen über das eigene Leben
Das Leben der beiden scheint den vorge(b)ahnten Weg zu verlaufen. Und wie so häufig im Leben trennen sich die Wege der beiden besten Freundinnen nach der Schulzeit. Über kurz oder lang verliert man dann auch noch gänzlich den Kontakt. Plötzlich, Jahre später, treffen sich die Freundinnen wieder. Lorrie Ann, die immer Gute, die Göttin, steht unerwartet ohne Schuhe mit blutenden Füßen vor der Tür ihrer damaligen Freundin Mia.
Rufi Thorpe erzählt eine eindringliche Geschichte über Moral und Ethik. Über die Bigotterie, der wir alle anhängen, wenn wir von anderen fordern, was wir selbst nicht einhalten können. Während wir von anderen Übermenschliches verlangen, messen wir unser eigenes Handeln an den kleinsten Maßstäben. Bei uns sind die Umstände Schuld, während wir bei anderen Persönlichkeitseigenschaften als Ursache erkennen wollen. In der Sozialpsychologie nennt man das den fundamentalen Attributionsfehler. Und ohne das Rudi Thorpe dieses Konzept benennen würde, beschreibt sie doch präzise diese allzumenschliche Eigenschaft. Thorpe erweist sich im Allgemeinen als genaue Beobachterin menschlichen Empfindens und Verhaltens – und das fernab jeglicher Klischees.
Corona del Mar ist eine Erzählung über die Schwächen des Menschseins. Menschen sind nicht perfekt und das Streben nach diesem Hollywoodesken Ideal kann nur zum Scheitern führen. Und Thorpe beschreibt dieses Scheitern im Detail. Es ist eine Geschichte so angsteinflößend und brutal wie das Leben selbst sein kann. Es ist ungemein erfrischend Thorpes Charakterstudie zu lesen. Hier wird nichts beschönigt, hier ist nicht Unterhaltung das alleinige Ziel von Literatur.
Das Leben ist anstrengend, es kann unfair sein, geradezu gemein, hinterhältig und verachtend. Es gibt kein Patentrezept für ein gelungenes Leben. Und manchmal oder sogar häufig ist das Leben für viele Menschen nicht auszuhalten und sie fliehen – sie fliehen vor ihrem eigenen Leben.
Thrope hat ein grandioses Plädoyer geschrieben, das uns dazu auffordert Menschen als Menschen anzuerkennen. Das mag zwar einfach klingen, hat aber weitreichende Konsequenzen. Es geht darum, das Handeln anderer Menschen nicht einfach zu verurteilen, wenn es uns missfällt. Es geht darum hinter den Handlungen die Menschen zu erkennen, mit all ihrem Leid, ihrer Angst, ihren Wünschen und Hoffnungen – mit ihrem ganzen Schicksal. Es geht darum die Hintergründe zu verstehen, was Menschen zu ihren Handlungen veranlasst, ja sie manchmal zu Handlungen treibt. Was uns auf den ersten Blick unverständlich erscheint, hat seine Gründe. Nichts ist so einfach, wie es unsere Vor-Urteile uns weismachen wollen. Das Leben ist weitaus komplizierter und es birgt für uns Alle Hürden und Gefahren. Und nicht alles liegt in den Händen von einem selbst.
Jeder ist seines Glückes Schmied
Und damit ist Rudi Thorpes Debütroman auch eine Abrechnung mit einem Urmythos der US-amerikanischen Gesellschaft: jeder ist seines Glückes Schmied. Genau das ist man nämlich nicht. Es gibt Schicksalsschläge für die ist niemand verantwortlich. Es gibt gesellschaftliche Verhältnisse in die man geboren wird, für die man nichts kann. Andere Menschen haben Einfluss auf das eigene Leben ohne das man das wollte. Ein angetrunkener Autofahrer übersieht beim Abbiegen einen Motoradfahrer – und plötzlich verliert eine Familie ihren Vater und Ehemann. Was so leicht dahingesagt ist, bedeutet für die Familie eine völlige Veränderung ihres bisherigen Lebens. Für Rudi Thorpe ist es der Auftakt für einen Mahlstrom des Schicksals in den sie Lorrie Ann schickt und aus dem sich diese nicht befreien kann.
Corona del Mar ist auch eine Geschichte über eine Mädchenfreundschaft, wer aber den Roman darauf reduziert, verkennt das Potenzial und die Tiefe dieses grandiosen Debüts über das Leben selbst. Selten wurde ein Buch allerdings auch so falsch beworben. Auf der Buchrückseite werden die Zeitschriften „Elle“ und „Glamour“ mit „Unwiderstehlich“ und „Bezaubernd“ zitiert. Beides geht so weit an Bedeutung und Inhalt des Buches vorbei, das ist schon fast böswillig. Während man „unwiderstehlich“ noch positiv wenden könnte, ist „bezaubernd“ eine absurde Bezeichnung für diese Geschichte. Nichts daran ist liebreizend oder entzückend. Treffender wäre erschütternd, bewegend, ergreifend, traurig und im besten Falle tragikomisch.
Wenn wir aufhören jemand sein zu wollen, der wir nicht sind, wenn wir aufhören, Masken aufzusetzen und Rollen zu spielen, nur um die falschen Erwartungen anderer zu erfüllen und nur wenn wir aufhören vermeintlichen gesellschaftlichen Idealen nachzujagen und uns diesen zu unterwerfen, können wir wirklich frei sein. Vielleicht ein wenig zu pathetisch was Thorpe vermittelt, aber ganz sicher nicht falsch.
Einzig negativ anzumerken ist Rudi Thorpes gelegentlich sehr bemüht wirkender Schreibstil. Das ein oder andere Sprachbild wirkt doch arg konstruiert und Thorpe verlässt sich dabei noch zu sehr auf den Werkzeugkasten der Sprache, den sie in ihrem Studium des kreativen Schreibens mitgegeben bekommen hat. Aber eines ist sicher, wenn sie künftig gelassener mit den konstruierten und damit Distanz schaffenden Begriffen umgeht, werden wir noch einiges von Rufi Thorpe hören und lesen. Für mich einer der Geheimtipps des Frühjahrs 2017!
Mehr Informationen inklusive Leseprobe direkt bei btb.
Rufi Thorpe
Ein Sommer in Corona del Mar
Aus dem Amerikanischen von Beate Brammertz
Taschenbuch
352 Seiten
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-71471-1
Preis: € 9,99
Erschienen: 13.03.2017