Die Außerirdischen
„Sie kamen über Nacht.“ Ein Buchbeginn der Extraklasse. Doron Rabinovici zögert in seinem Die Außerirdischen nicht eine Zeile. Der erste Absatz richtet bereits über das Schicksal der Menschheit. In wenigen Worten schildert er den Ausgangspunkt des Romans. Die Außerirdischen landeten, niemand bekam etwas davon mit. Es gab keine kriegerischen Auseinandersetzungen. „Beklemmend bis heute, heimgesucht worden zu sein, ohne irgendetwas bemerkt zu haben. Als wir aufwachten, war über uns entschieden.“ Selten wurde das dystopische Endzeitszenario trockener serviert.
Dass Außerirdische gelandet sind, wird lediglich über die Medien verkündet. Der kurzen Schockstarre folgt, was folgen muss. Das Chaos bricht aus. Die Menschen flüchten aus den Städten.
„Nur weg!“
„Und dann?“
„Einfach raus aus der Stadt.“
„Spinnst du? Die wahren Außerirdischen leben immer schon auf dem Land.“
„Vor den Außerirdischen fürchte ich mich nicht.“
Und schon beginnen die Plünderungen, die Überfälle, die Raube, Morde und Vergewaltigungen. Gangs streifen durch die Straßen, Hooligans randalieren. Es gibt nichts wozu der Mensch im Angesicht der Konsequenz- und Verantwortungslosigkeit nicht im Stande wäre. Rabinovici weiß diesen Umstand gekonnt furchtbar in Szene zu setzen.
Die Welt der Massenmedien
Dabei beginnt hier gerade erst die Eskalationsspirale. Weil niemand so richtig weiß, was eigentlich gerade geschieht, greifen Verschwörungstheorien um sich. Dahinter müssen die Freimaurer stecken. Und Nato und Aliens haben sich verbündet. Es folgen Aufrufe zu Pogromen. Gerücht, Verschwörung, Verfolgungswahn. Die Heilige Dreifaltigkeit der Vernichtungsfantasien und die brutal reale Allegorie zum Hier und Jetzt. Besorgte Väter rüsten auf und bewaffnen sich, um den Gefahren der Anarchie begegnen zu können. Die Landung der Außerirdischen hat zahlreiche Tote zur Folge. Ausnahmslos alle wurden von den Menschen selber ermordet. Der Mensch braucht keine Aliens um sich selbst ins Endzeitszenario zu katapultieren.
Der Protagonist ist Redakteur bei einem kleinen Internetmagazin zur gehobenen Essenskultur. Und aus diesem Nischenprojekt wird über Nacht die Quelle für Informationen, aber vor allem für Klatsch und Tratsch rund um die Außerirdischen. Smack.com entwickelt dazu die Sendung „Brandheiß“, die nicht ungefähr an Sendungen der verrückten Verschwörungstheoretiker und Selbstdarsteller Alex Jones aus den USA oder Jürgen Elsässer in Deutschland erinnert. Angst ist deren Geschäft. Und dabei sind sie wiederum nur ein ins gefährlich absurde übersteigerte Format, ein Zerrspiegel des herkömmlichen Fernsehens.
Nach drei Wochen des Chaos, kehrt langsam wieder Ordnung ein. Die Menschen gewöhnen sich an die Außerirdischen. Der Alltag muss wieder funktionieren. Polizei und Militär haben das Gewaltmonopol wiederhergestellt.
Und endlich wollen sich die Außerirdischen auch zeigen. Weltweit wird daraus ein riesiges Willkomensfest, mit riesigen Bühnen, Massenparties, Demonstrationen. Popstars und andere Celebrities treten auf, halten Reden. Dabei kann die Außerirdischen niemand so richtig sehen. Rabinovici spielt hier mit dem Aphorismus des Gesellschaftstheoretikers Niklas Luhmann: „„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.“ ((Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag.))
Ein Moderator platzte heraus:
Ein Popstar, der hinter ihm stand, meinte: „Wovon redest du? Wo sind da Außerirdische? Ich sehe nur Menschen.“
„Es ist kaum zu glauben, aber sie sehen aus wie wir.“
Tribute von Panem meets Soylent Green
Nach einer kurzen Phase der intergalaktischen Freude und des kosmischen Größenwahns, wird die Absicht der Außerirdischen deutlich. Einerseits versprechen sie Frieden, Wohlstand und saubere Energien, andererseits benötigen sie auch eine Gegenleistung. Es soll eine weltweite Gameshow starten. Überall können sich die Menschen freiwillig melden. Der Gewinner wird in Ruhm und Reichtum leben. Die Verlierer hingegen werden eine Zeitlang auf einer wundervollen Insel leben, um dann von den Außerirdischen geschlachtet und gegessen zu werden. Die Hinterbliebenen werden dafür natürlich fürstlich entschädigt.
Die freiwilligen Teilnehmer, ob Gewinner oder Verlierer werden zu weltweiten Champs erklärt. Idole einer neuen Generation. Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, heißt sich dem Wettbewerb zu stellen. Wie könnte man denn auf die Vorteile der Außerirdischen verzichten wollen nur um sein eigenes Leben zu retten? Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Keine Gesellschaftskritik, die Rabinovici nicht gekonnt eingeflochten hätte.
Die Außerirdischen ist nicht nur eine grandiose Allegorie, eine brillante Gesellschaftskritik, sondern vor allem auch eine hervorragende Analyse der Gegenwartsgesellschaften. Nichts an der Geschichte ist übertrieben in dem Sinne, das Menschen dazu nicht fähig wären, es in der Geschichte bereits getan haben oder gerade dabei sind zu tun.
Verschwörungstheorien, Fremdenfeindlichkeit, Alternative Medien, Hass und Gewalt, autoritäre Gesellschaften mit Polizeistaatsstrukturen, die Militarisierung der Gesellschaft, Medien als Teil der Brot und Spiele Strategie, repressive gar faschistische Staatsstrukturen – in Doron Rabinovicis Roman fehlt es an nichts. An nichts, was die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa oder den USA beschreiben würde.
Am Ende wird der Protagonist auch noch deportiert und landet in einem Konzentrationslager. Hier enden nicht nur die Champs, sondern unzählige andere Störer und Gefährder. Denn Protest gegen die menschenverachtenden Spiele oder die Außerirdischen wird mittlerweile als Terrorismus gewertet. Selbst der friedliche Widerstand, selbst die Meinungsäußerung können einen in das Lager bringen. Und von hier kehrt niemand zurück.
Als SciFi Dystopie wäre es lediglich eine Zusammenschau vieler anderer bekannter Geschichten. Sei es die Tribute von Panem, Running Man, Soylent Green, Die Insel, Battle Royal – von allem etwas. Was Rabinovici so außergewöhnlich macht, ist also nicht die innovative Geschichte, sondern die erschreckend realistische Beschreibung der Entwicklung von der eben noch normalen Gesellschaft wie wir sie kennen, hin zu einem menschenverachtenden Totalitarismus. Absolute Pflichtlektüre!
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei Suhrkamp.
Doron Rabinovici
Die Außerirdischen
Gebunden
Verlag: Suhrkamp Insel
255 Seiten
Preis: 22,00 €
ISBN: 978-3-518-42761-3
Erschienen: 07.08.2017
Ich habe die Leseprobe für den österreichischen Buchpreis gelesen, wo dieses Buch (zu Recht) nominiert ist.
Was besonders auffällt ist die klare, fast schon leichte Sprache, in der diese vollkommen absurden und gleichzeitig brutal realistischen Ereignisse geschildert werden. Ich habe mir die ganze Zeit gedacht: Ich seh es schon vor mir…genau so würde es ablaufen, wenn das wirklich passieren würde. Und diese Seitenhiebe auf unsere Gesellschaft sind einfach nur genial.
Ein Buch was ich auf jeden Fall gerne lesen möchte.
Viele Grüße, Anja