Die unendliche Geschichte
Es ist 1985 und ich liege auf einer Decke auf dem Dachboden meiner Grundschule. Es ist Winter und bereits dunkel draußen. Ein paar Kerzen erhellen das Buch, das ich gerade lese. Schüler und Lehrer haben das Gebäude schon vor Stunden verlassen. Ich bin allein. Und das ist ziemlich gruselig. Moment. Ich bin nicht ganz allein. Ein anderer Junge in meinem Alter liest ebenfalls in einem dicken Buch. Ich lese in dem Buch, in dem steht, dass er in dem Buch liest, dass ich gerade lese. Der Junge schaut auf den Buchdeckel und sieht ineinandergeschlungene Schlangen, die sich gegenseitig ins Schwanzende beißen. Ich schaue auf meinen Buchdeckel und sehe das gleiche Zeichen. Unheimlich. Wahnsinn. Genial. Was für eine Phantasmagorie.
Quelle: Wikimedia Commons | Autor: Tropican | CC BY-SA 3.0
Ich liege auch gar nicht auf dem Dachboden meiner Schule, sondern in meinem warmen Bett und lese „Die unendliche Geschichte“. Das dickste und weitaus schönste Buch, das ich bis dahin gelesen hatte. Rote und grüne Schrift. Große Anfangsbuchstaben zu Kapitelbeginn, die wunderschön illustriert sind. Und dann diese Geschichte. Ich folge dem Jungen in die Buchhandlung von Karl Konrad Koreander. Ich sehe wie er das Buch klaut, dass ich gerade lese. Ich folge dem Jungen auf den Dachboden seiner Schule, der dadurch irgendwie auch zum Dachboden meiner Schule wird. Und plötzlich ist der Junge in Phantásien – nein, wir sind in Phantásien.
So wie Bastian Balthasar Bux Atréju auf seinen Abenteuern begleitet, so begleite ich Bastian und damit ebenfalls Atréju – und Artax sein treues Pferd. Ich reite durch die Steppen, obwohl ich damals noch gar keine Pferde mochte. Ich trauere mit Atréju und Bastian um Artax, den das Auryn nicht schützen kann und der deshalb in den Sümpfen der Traurigkeit stirbt. Ich durchstehe alle Abenteuer, die doch Atréju durchstehen muss. Ich rufe Bastian zu, dass er doch endlich die Kindliche Kaiserin retten soll, während der sich Ewigkeiten Zeit lässt. Was macht der denn?!
Die Unendliche Geschichte hat mein kindliches Ich tief beeindruckt. Es ist eines der wenigen Bücher, die ich bereits als Kind und Jugendlicher mehrfach gelesen habe. Und im Zuge der Namenssuche für diesen Blog, habe ich mich an Koreanders fantastisches Buchantiquariat erinnert. Und es war ein Drang sich noch einmal nach Phantásien zu begeben. Noch einmal Kindheitserinnerungen und -gefühle reaktivieren. Dabei war eines klar, ich brauchte die Ausgabe von 1979. Die original Ausgabe des Thienemann Verlages. Genauso wie ich das Buch damals in den 80ern gelesen hatte.
Gesagt, getan, hatte ich, trotz zahlreicher anderer Bücher, die da noch gelesen werden wollten (in der Bücher-Nerd-Sprache auch gerne SuB ((Stapel ungelesener Bücher)) genannt), eine Erstausgabe ersteigert. Dazu noch in sehr gutem Zustand. ((Eine originalverpackte Erstausgabe – tatsächlich noch eingeschweißt – ist mir allerdings vor der Nase weggekauft worden.)) Meiner Reise konnte nichts mehr im Wege stehen. Und es hat besser funktioniert als ich gehofft hatte. Es war eine neue Reise und keine bloße Wiederholung des früher erlebten. Das kindliche Ich brauchte keine Anleitung für Phantasie, davon hatte ich reichlich. Das kindliche Ich wollte Abenteuer und eine Flucht aus der Erwachsenenwelt. Das heutige Ich konnte einen Ausflug nach Phantásien allerdings dringend gebrauchen. Und was es da nicht alles zu entdecken gab. Und ich meine bewusst nicht: wiederentdecken. Denn so manches werde ich damals gar nicht verstanden haben.
Vor allem Gmorks Monolog kurz vor seinem Ende.
„Und nichts gibt größere Macht über die Menschen als die Lüge. Denn die Menschen, Söhnchen, leben von Vorstellungen. Und die kann man lenken. […] Vielleicht wird man mit deiner Hilfe Menschen dazu bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen, oder zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht, oder zu bezweifeln, was sie erretten könnte. Mit euch kleiner Phantásier, werden in der Menschenwelt große Geschäfte gemacht, werden Kriege entfesselt, werden Weltreiche begründet…“
Michael Ende hat nicht nur einen der wundervollsten Kinderbuchklassiker aller Zeiten geschrieben, er hat auch noch wichtige Botschaften dermaßen dezent untergebracht, dass der von ihm verhasste erhobene Zeigefinger zu keiner Zeit zu spüren ist. Oder um es mit Michael Ende selbst zu sagen, dieses Buch hat keine Botschaft. Es ist eine Botschaft. Das Buch will nicht die Welt verbessern, das Buch ist ein Stück bessere Welt. Grandioser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
Die unendliche Geschichte von Michael Ende ist eines der besten Kinder- und Jugendbücher, die es gibt und ohne Abstriche auch unbedingt empfehlenswert für Erwachsene. Von mir gibt es ein ganz klares Mustread. Wer das Buch noch nie gelesen hat, sollte dies dringend nachholen. Wer es als Kind gelesen hat, sollte sich das Erlebnis des erwachsenen Lesers nicht entgehen lassen.
Für mich gehört Michael Ende zu den wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Und da interessiert es mich auch reichlich wenig, dass eskapistische Literatur verpönt ist oder dass Jugendbücher in den Augen mancher Kritiker, ja irgendwie doch nicht so richtige Literatur sind.
Die unendliche Geschichte wurde 1984 von Wolfgang Petersen verfilmt. Es war die damals teuerste Filmproduktion Europas mit über 60 Millionen DM. Die Geschichte rund um die Verfilmung ist tatsächlich eine eigene Geschichte. In deren Verlauf Michael Ende seine Zusage zu dem Film zurückziehen möchte, weil das Drehbuch die „Micky-Maus-Version“ seines Buches ist, dabei sollte der Film gerade nicht eine hollywoodeske Inszenierung werden. Ulli Pfau hat nicht nur eine sehr sehenswerte Reportage über die Dreharbeiten gemacht ((die sich als Bonusmaterial auf meiner DVD Variante befindet)) , sondern auch ein Buch rund um die Verfilmung geschrieben. „Phantásien in Halle 4/5 – Michael Endes ‚Unendliche Geschichte‘ und ihre Verfilmung“ ist fast ebenso ein Mustread.
In dem Buch ist auch eine Presseerklärung von Michael Ende abgedruckt, die er zu einer der Drehbuchfassungen im März 1983 veröffentlichte. Eine besonders prägnante Stelle, die die Problematik der Verfilmung auf den Punkt bringt, soll hier noch kurz zitiert werden:
„Die eigenen schöpferischen Phantasie-Kräfte des Zuschauers werden nicht geweckt und angeregt, sondern vollends durch äußere Perfektion totgeschlagen. Damit sind wir bei der totalen Entwertung meines Buches angelangt, denn dieser Film ist das bestechend professionell gemachte Surrogat dessen, worum es eigentlich geht. Es ist der mühelos zu verdauende Massen-Konsum-Artikel ohne wirklichen Nährwert.“
In der Reportage bringt es Ende auf den Punkt, es werden „Orgien des Kitsches“ gefeiert, und somit wird aus der unendlichen Geschichte, eine „unsägliche Geschichte“.
Michael Ende
Die unendliche Geschichte
Seiten: 432
Veröffentlichungsjahr: 1979
ISBN: 3522176847
Art der Ausgabe: Hardcover
Illustrationen: Roswitha Quadflieg
Originalverlag: Thienemann Verlag
Mehr Infos zum Buch und zur Neuausgabe von 2004 gibt es direkt beim Thienemann Verlag.
Ulli Pfau
Phantásien in Halle 4/5 – Michael Endes ‚Unendliche Geschichte‘ und ihre Verfilmung
Seiten: 167
dtv
1984
ISBN: 3423102608
Nur noch gebraucht zu erwerben.
Und noch ein Highlight von 1990. Michael Ende zu Gast bei Joachim Fuchsberger. Ein Träumchen.