Der Abgrund in dir
Dennis Lehane ist der Autor des psychologischen Thrillers Shutter Island, ein Meisterwerk, das mit der Psyche seiner Protagonisten und mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen spielt und mit Leonardo DiCaprio kongenial verfilmt wurde. Roman und Verfilmung sind dabei äußerst tiefgründig und aus psychologisch-psychiatrischer Perspektive außergewöhnlich spannend. Grund genug für mich, mich auf den neuesten Psychothriller von Lehane zu stürzen, wird er doch beworben mit „Der Leser findet sich wieder in einem Spiegelkabinett, das in seiner psychologischen Raffinesse an den Weltbestseller ›Shutter Island‹ erinnert.“ „Der Abgrund in dir“ fängt denn auch äußerst vielversprechend an und zeigt, dass Lehane Spaß an der Psychologie hat.
Aber um es gleich vorweg zu sagen, etwa ab der Hälfte kippt der Roman und das letzte Drittel ist, und das tut schon fast leid, das schreiben zu müssen, wirklich ziemlich mies. Hier wurde nicht versucht einen stringenten, intelligenten Roman zu schreiben, hier wurde auf die Verfilmbarkeit hin geschrieben. Und dazu bedarf es in Hollywood wohl vor allem viel Action. Passt zwar überhaupt nicht zu den ersten 300 Seiten, aber das scheint leider keine Rolle gespielt zu haben. Dazu ist die Handlung im letzten Drittel dermaßen unglaubwürdig, mangelt an vielen Stellen einfacher Logik und zerstört die aufgebauten Charaktere zu billigen B-Movie Stereotypen. Für mich völlig unerklärlich, was da in Lehane gefahren ist, wenn nicht ein Vorvertrag mit Hollywood geschlossen wurde.
Nichts ist, wie es scheint
Im Prinzip hat man es hier mit einem guten Beispiel für gehypte Bestseller zu tun. Großer Name, teure Werbung und es muss unbedingt so viel Gewinn wie annähernd möglich herausgeschlagen werden. Der Inhalt spielt dabei schon fast keine Rolle mehr. Dabei ist der Anfang spannend und die Charaktere werden wieder hervorragend aufgebaut. Rachel Childs hat nie ihren richtigen Vater kennengelernt. Sie kennt nicht einmal seinen Namen. Nach dem Tod der Mutter, die sich lebenslang weigerte die Identität zu verraten, macht sich Rachel auf die Suche. Dieser einleitende Abschnitt macht Spaß und Neugierig. Aber bereits hier hätte man beim Lesen aufmerken müssen, denn ein wichtiger plot twist kommt dermaßen dümmlich daher, dass es mich wundert, dass Lehane der Autor sein soll. Wurde hier bereits der Anspruch heruntergeschraubt, um noch breitere Leserschichten zu erreichen? Sind die intelligenten Erklärungen für einige Leser*innen nicht mehr nachvollziehbar? Zugegeben an dieser Stelle hat es mich nur verwundert, aber nicht weiter gestört, da die Gesamtgeschichte bis dahin absolut fesselnd war.
Doch so langsam kippt die Erzählung hin zu absurden Zufällen und unglaubwürdigen Entwicklungen. Zu diesem Zeitpunkt ist nur noch nicht klar, wie sich alles auflöst und es hätte durchaus noch die eine oder andere Option gegeben, dass das alles Sinn ergibt und dass es dann zu einem großartigen Thriller geworden wäre. Denn Lehane ist ja eben bekannt für seine psychologischen Konstrukte. Schließlich heißt es ja auch beim Klappentext bedeutungsschwanger: „Nichts ist mehr, wie es scheint.“ Das hätte ja auch durchaus auf die Wahrnehmung von Realitäten zielen können, auf die psychologisch immer wieder interessante Frage: was ist Wirklichkeit? Leider ist es eben nur nicht dieses Spiel mit den Wahrnehmungen oder Wahrnehmungsverzerrungen. Obwohl es immer wieder auch Anleihen zum Gaslightning gibt. Damit wird zwar meine Aufmerksamkeit getriggert, aber nur um dementsprechend in die bodenlose Enttäuschung zu stürzen, wenn feststellbar wird: da kommt nichts mehr. Keine Wendung, die alles anders erscheinen lässt. Vielleicht ist das ja der Abgrund von dem der Titel erzählt.
Wie es scheint, ist es Nichts
Lehanes Der Abgrund in dir verliert sich ab der zweiten Hälfte in einen banalen Thriller. Das hat man alles schon mal gelesen, und zwar besser. Die „unglaubliche Verschwörung“, die der Klappentext ankündigt, ist wirklich, im wahrsten Sinne des Wortes, unglaublich. Und eigentlich auch keine Verschwörung. Letztlich würde es zu einem Krimi reichen, doch dann hätte man das Ganze auch schon wesentlich besser und vor allem glaubwürdiger gelesen. Für mich das Schlimmste sind jedoch diese unfassbaren Stereotype, die im letzten Drittel auftauchen. Da wird wirklich an keinem Klischee gespart. Und spätestens bei der James-Bond-Referenz, oder ist es eher ein Ideenklau, ist es bei mir mit wohlwollender Kritik eines „psychologischen Spannungsromans“ vorbei. Aber das Beste, respektive das Schlechteste, ist, dass ein ganz wesentlicher Teil des letzten Drittels, nicht nur an Logik mangelt, sondern schlichtweg auch nicht erklärt wird. So als ob Lehane nicht einmal mehr gemerkt hat, was er da alles geschrieben hat. Und so folgt man einer Geschichte, die immer lächerlicher wird und wird weder mit einem bombastischen plot twist zum Ende hin belohnt, noch mit einer Aufklärung aller Absurditäten. Und dabei begeht Lehane sogar einen der allerschlimmsten Kardinalfehler, von denen ich dachte, dass diese Art der Erklärung mittlerweile, zu Recht, tabu sei: Die „Bösen“ erklären im Angesicht des Todes (oder wahlweise ihres Sieges) noch einmal ausführlich den weiteren Masterplan. Hey, warum sollte das jemand tun? Das Internet ist voll mit Verballhornungen genau dieser absurden Erzähltechnik.
Den Vergleich hat Shutter Island wahrlich nicht verdient. Und das Einzige was am Ende bleibt, ist die Erkenntnis: Nichts ist, wie es scheint. Nicht einmal mehr Lehanes psychologisch anspruchsvolle Charaktere und Geschichten.
Mehr Informationen inklusive Lese- oder Hörprobe gibt es direkt bei Diogenes.
Der Abgrund in dir
Dennis Lehane
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg
Hardcover Leinen
528 Seiten
Preis: 25,- €
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07039-2

sorry, aber da muss ich echt dazwischen grätschen. Es mag sein, dass der Verlag den Rückentext ungünstig gewählt hat und ich würde auf keinen Fall behaupten, dass Der Abgrund in dir ein psychologischer Thriller sei, aber mies ist er auf keinen Fall. Wer Dennis Lehane ein wenig kennt und nicht nur Shutter Island auf der Grund der Verfilmung gelesen hat, sondern auch seine Krimireihe um Gennaro / Kenzie oder In der Nacht / Am Ende einer Welt / The Drop oder Mystic River, der weiß, worauf es bei Lehane ankommt: auf die Vielschichtigkeit der Charaktere. Ich stimme Dir in dem Punkt zu, dass man Shutter Island nicht mit dem aktuellen Roman – und als nichts anderes würde ich es bezeichnen – nicht vergleichbar ist. Ich stimme Dir auch zu, dass die Werbung mit ihrem Text da schief liegt, „Verschwörungstheorie“ ist da tatsächlich absolut daneben. Die Suche Rachels nach ihrem Vater – sie führt sie zu Brian. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Lehane entwickelt keine psyhcologischen Konstrukte, er zeigt Menschen, wie sie eben manchmal handeln: absolut unlogisch. Aus Beweggründen, die wir nicht kennen, die keiner kennt und auch nie kennen wird. So ist das Leben. Man kann niemandem in den Kopf schauen, man kann nie wissen, was ein anderer tatsächlich denkt, das ist purer Existenzialismus, den er da – meiner bescheidenen Meinung nach – recht gut rüberbringt. Da kann einem auch nicht gefallen, klar. Keine Frage. Leser, die denen das aber gefällt, als nicht intelligente Leser einzustufen … nun ja, das ist eine andere Sache.
Manchmal sind es halt auch die Erwartungshaltungen, die ein Buch nicht zu dem machen, was es hätte sein können. Vielleicht bin ich einfach nicht mit dem Gedanken an die Lektüre gegangen, dass ich jetzt einen Thriller lese. Wer weiß, Vielfalt halt. Deshalb sollte sich auch jeder immer aus eigener Anschauung eine Meinung bilden 😉 Meine fiel sehr viel positiver aus, als deine. LG, Bri
Liebe Bri,
ich bleibe bei meiner Meinung, die Charaktere, die er zu Beginn vielschichtig entwirft, zerbröseln im letzten Drittel zu mittelmäßigen Hollywood-Stereotypen.
Und das ist im letzten Drittel beim besten Willen nicht mehr gegeben. Menschen handeln so nicht. Manche Autoren und Leser*innen möchten vielleicht glauben, dass das ein Abbild der Realität ist, aber nicht jedes Klischee ist eben Realität und nicht jeder zigfache Autoüberschlag hinterlässt keine Spuren.
Man muss sich ja nicht angesprochen fühlen. Ich habe auf die banalen Konstrukte hingeweisen, die teils sogar direkt abgekupfert sind aus James Bond Filmen. Und die sind nun mal nicht gerade berühmt für intelligente, sondern für massentaugliche Geschichten und Szenerien.
Und ich werde einen Teufel tun und irgendjemandem seinen Geschmack, seine Vorlieben oder seine Lesefreude vorschreiben. Im Gegenteil, es freut mich doch, wenn jemand Spaß am Lesen hat. Mir war das alles einfach zu konstruiert, zu gewollt und vor allem zu sehr auf ein Hollywood-Drehbuch hin geschrieben.
Ich will ja immer nicht spoilern, deswegen kann ich leider auch viele Szenen nicht diskutieren. Aber es gäbe genügend Stellen, bei denen sich mir die Haare zu Berge stellen, aufgrund der Absurdität des Konstrukts, nicht der Absurdität des menschlichen Handelns, da sehe ich es ähnlich wie du, Menschen handeln auch unlogisch. Aber selbst das kann man durchaus wissenschaftlich erklären.
Herzlichst
Sascha
P.S.: Vielen Dank für dein Kontra. Das bereichert den Wert der Rezension ungemein für andere Leser*Innen!