cover der abgrund in dir
Roman:
Dennis Lehane
Preis:
25,- €

Rezension von:
Bewertung:
3
26. August 2018
Letzte Änderung:26. August 2018

Lohnt sich vielleicht mal als Taschenbuch im Sommerurlaub

Der Abgrund in dir

Dennis Lehane ist der Autor des psychologischen Thrillers Shutter Island, ein Meisterwerk, das mit der Psyche seiner Protagonisten und mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen spielt und mit Leonardo DiCaprio kongenial verfilmt wurde. Roman und Verfilmung sind dabei äußerst tiefgründig und aus psychologisch-psychiatrischer Perspektive außergewöhnlich spannend. Grund genug für mich, mich auf den neuesten Psychothriller von Lehane zu stürzen, wird er doch beworben mit „Der Leser findet sich wieder in einem Spiegelkabinett, das in seiner psychologischen Raffinesse an den Weltbestseller ›Shutter Island‹ erinnert.“ „Der Abgrund in dir“ fängt denn auch äußerst vielversprechend an und zeigt, dass Lehane Spaß an der Psychologie hat.

Aber um es gleich vorweg zu sagen, etwa ab der Hälfte kippt der Roman und das letzte Drittel ist, und das tut schon fast leid, das schreiben zu müssen, wirklich ziemlich mies. Hier wurde nicht versucht einen stringenten, intelligenten Roman zu schreiben, hier wurde auf die Verfilmbarkeit hin geschrieben. Und dazu bedarf es in Hollywood wohl vor allem viel Action. Passt zwar überhaupt nicht zu den ersten 300 Seiten, aber das scheint leider keine Rolle gespielt zu haben. Dazu ist die Handlung im letzten Drittel dermaßen unglaubwürdig, mangelt an vielen Stellen einfacher Logik und zerstört die aufgebauten Charaktere zu billigen B-Movie Stereotypen. Für mich völlig unerklärlich, was da in Lehane gefahren ist, wenn nicht ein Vorvertrag mit Hollywood geschlossen wurde.

Nichts ist, wie es scheint

Im Prinzip hat man es hier mit einem guten Beispiel für gehypte Bestseller zu tun. Großer Name, teure Werbung und es muss unbedingt so viel Gewinn wie annähernd möglich herausgeschlagen werden. Der Inhalt spielt dabei schon fast keine Rolle mehr. Dabei ist der Anfang spannend und die Charaktere werden wieder hervorragend aufgebaut. Rachel Childs hat nie ihren richtigen Vater kennengelernt. Sie kennt nicht einmal seinen Namen. Nach dem Tod der Mutter, die sich lebenslang weigerte die Identität zu verraten, macht sich Rachel auf die Suche. Dieser einleitende Abschnitt macht Spaß und Neugierig. Aber bereits hier hätte man beim Lesen aufmerken müssen, denn ein wichtiger plot twist kommt dermaßen dümmlich daher, dass es mich wundert, dass Lehane der Autor sein soll. Wurde hier bereits der Anspruch heruntergeschraubt, um noch breitere Leserschichten zu erreichen? Sind die intelligenten Erklärungen für einige Leser*innen nicht mehr nachvollziehbar? Zugegeben an dieser Stelle hat es mich nur verwundert, aber nicht weiter gestört, da die Gesamtgeschichte bis dahin absolut fesselnd war.

Doch so langsam kippt die Erzählung hin zu absurden Zufällen und unglaubwürdigen Entwicklungen. Zu diesem Zeitpunkt ist nur noch nicht klar, wie sich alles auflöst und es hätte durchaus noch die eine oder andere Option gegeben, dass das alles Sinn ergibt und dass es dann zu einem großartigen Thriller geworden wäre. Denn Lehane ist ja eben bekannt für seine psychologischen Konstrukte. Schließlich heißt es ja auch beim Klappentext bedeutungsschwanger: „Nichts ist mehr, wie es scheint.“ Das hätte ja auch durchaus auf die Wahrnehmung von Realitäten zielen können, auf die psychologisch immer wieder interessante Frage: was ist Wirklichkeit? Leider ist es eben nur nicht dieses Spiel mit den Wahrnehmungen oder Wahrnehmungsverzerrungen. Obwohl es immer wieder auch Anleihen zum Gaslightning gibt. Damit wird zwar meine Aufmerksamkeit getriggert, aber nur um dementsprechend in die bodenlose Enttäuschung zu stürzen, wenn feststellbar wird: da kommt nichts mehr. Keine Wendung, die alles anders erscheinen lässt. Vielleicht ist das ja der Abgrund von dem der Titel erzählt.

Wie es scheint, ist es Nichts

Lehanes Der Abgrund in dir verliert sich ab der zweiten Hälfte in einen banalen Thriller. Das hat man alles schon mal gelesen, und zwar besser. Die „unglaubliche Verschwörung“, die der Klappentext ankündigt, ist wirklich, im wahrsten Sinne des Wortes, unglaublich. Und eigentlich auch keine Verschwörung. Letztlich würde es zu einem Krimi reichen, doch dann hätte man das Ganze auch schon wesentlich besser und vor allem glaubwürdiger gelesen. Für mich das Schlimmste sind jedoch diese unfassbaren Stereotype, die im letzten Drittel auftauchen. Da wird wirklich an keinem Klischee gespart. Und spätestens bei der James-Bond-Referenz, oder ist es eher ein Ideenklau, ist es bei mir mit wohlwollender Kritik eines „psychologischen Spannungsromans“ vorbei. Aber das Beste, respektive das Schlechteste, ist, dass ein ganz wesentlicher Teil des letzten Drittels, nicht nur an Logik mangelt, sondern schlichtweg auch nicht erklärt wird. So als ob Lehane nicht einmal mehr gemerkt hat, was er da alles geschrieben hat. Und so folgt man einer Geschichte, die immer lächerlicher wird und wird weder mit einem bombastischen plot twist zum Ende hin belohnt, noch mit einer Aufklärung aller Absurditäten. Und dabei begeht Lehane sogar einen der allerschlimmsten Kardinalfehler, von denen ich dachte, dass diese Art der Erklärung mittlerweile, zu Recht, tabu sei: Die „Bösen“ erklären im Angesicht des Todes (oder wahlweise ihres Sieges) noch einmal ausführlich den weiteren Masterplan. Hey, warum sollte das jemand tun? Das Internet ist voll mit Verballhornungen genau dieser absurden Erzähltechnik.

Den Vergleich hat Shutter Island wahrlich nicht verdient. Und das Einzige was am Ende bleibt, ist die Erkenntnis: Nichts ist, wie es scheint. Nicht einmal mehr Lehanes psychologisch anspruchsvolle Charaktere und Geschichten.

Mehr Informationen inklusive Lese- oder Hörprobe gibt es direkt bei Diogenes.

Der Abgrund in dir
Dennis Lehane
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg
Hardcover Leinen
528 Seiten
Preis: 25,- €
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07039-2