Maos langer Schatten
Am 14. Juni wird zum ersten Mal der Deutsche Sachbuchpreis vergeben. Als „Sachbuchpreisblogger“ durfte ich bereits „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ von Andreas Kossert vorstellen. Als zweites Buch habe ich mir Daniel Leeses „Maos langer Schatten“ ausgesucht. Wenn man mit einer Sinologin verheiratet ist, bleibt ein gewisses Interesse für Ostasien nicht aus. Gerade erst habe ich Kai Vogelsangs ausgezeichnetes Sachbuch „China und Japan. Zwei Reiche unter einem Himmel“ hier vorgestellt. Nach diesem Blick auf die langfristige Beziehungs-, Entstehungs- und Kulturgeschichte dieser beiden Länder folgt nun die Fokussierung auf einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte Chinas. Daniel Leese hat sich mit der juristischen, politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der Kulturrevolution in China nach Maos Tod wissenschaftlich auseinandergesetzt.Im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekts „The Maoist Legacy: Party Dictatorship, Transitional Justice and the Politics of Truth“ hat er erforscht, „auf welche Weise sich die Kommunistische Partei nach Mao Zedongs Tod mit dem Erbe massenhaften historischen Unrechts auseinandersetzte.“ Nun wirkt der Sachbuchtitel „Maos langer Schatten“ dagegen allerdings weniger zutreffend. Denn der lange Schatten spielt lediglich im Prolog wie Epilog eine Rolle. In den anderen über 400 Seiten ist es eher der kurze Schatten, der juristisch aufgearbeitet werden soll. Ganz wie es der Titel des Forschungsprojekts eben hergibt. Für den Sachbuchmarkt hat man dann einen Epilog drangehängt, der die Zielgruppe des Sachbuches jenseits von Sinolog*innen und Rechtswissenschaftler*innen erweitern soll. Aus Perspektive des Marketings legitim, für eine Leser*innenschaft jenseits dieses special interests der innerparteilichen Aufarbeitung von Unrecht und Terror allerdings vermutlich eher etwas enttäuschend. Ein Problem das das gesamte Buch durchzieht: wer ist die Zielgruppe?
Wie umgehen mit dem eigenen Unrecht?
„Maos langer Schatten“ ist aber eine äußerst profunde, detailreiche und akribische Darstellung der Aufarbeitung der Staatsverbrechen der Kommunistischen Partei unter Mao während der sogenannten Kulturrevolution. Hunderttausende, vielleicht Millionen Tote forderte der Terror der „10 Jahre Chaos“ und stürzte das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Nach Maos Tod begann die Aufarbeitung dieser Zeit der Willkür und des Unrechts. Das Besondere ist, dass hier kein System- oder Herrschaftswechsel vorhergeht, sondern die Kommunistische Partei Chinas die eigenen Verbrechen und das eigene Unrecht zum Gegenstand der Aufarbeitung machen muss. Oberstes Staatsziel war dabei jedoch die Befriedung und die Einheit und Stabilität Chinas. Wie also mit Tätern umgehen, die weiterhin verdiente Mitglieder der Partei sind? Wie mit Verbrechen umgehen, die von oberster Stelle toleriert wurden? Um den Versprechungen der Partei nach Gerechtigkeit nachzukommen, müssen Täter verurteilt und Unrecht wieder gut gemacht werden. Zwischen 1976 und 1987 wurden so Millionen Urteile neu gesichtet. Über 600.000 Personen waren zeitweise mit der Aufarbeitung beschäftigt.
„Insgesamt verhandelten die Gerichte in der Kulturrevolution mindestens 1,26 Millionen Strafrechtsfälle, die nach Mao Zedongs Tod alle neu aufgerollt und überprüft wurden. Nicht-politische Verbrechen machten mit 980 000 Verurteilungen die überwiegende Mehrheit aus. Die restlichen 280 000 Fälle wurden zeitgenössisch unter den Tatbestand der Konterrevolution gefasst.“ Man wollte wieder „Ordnung aus dem Chaos schaffen“. Die „Revision ungerechter, falscher und fehlerhafter Fälle“ wurde zwar durch Gerichte und Sicherheitsorgane durchgeführt, allerdings konnten diese durch Parteikomitees verändert werden. Bei den Strafrechtsfällen wurden nur etwa 10 Prozent korrigiert, bei den politischen Vergehen wurden 70 bis 80 Prozent revidiert. Nimmt man alle Verfahren zusammen auch die vor der Kulturrevolution kommt man auf fast 3 Millionen überprüfte Verfahren mit etwa einer Million korrigierter Urteile.
Sachbuch oder Forschungsbericht?
Daniel Leese gelingt trotz einer wissenschaftlich motivierten überbordenden Detailverliebtheit ein lesenswertes Buch, dass auch aktuelle Geschehnisse und Machtkämpfe in China verstehen hilft. Die herrschende Kultur ist immer auch die Kultur der Herrschenden und so entwirft Leese ein empirisches Bollwerk zu George Orwells Aphorismus: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“
Allerdings und das sei auch gesagt ist die teils ermüdende und redundante Tiefe der Darstellungen nicht sonderlich Sachbuch geeignet. So liegt leider bereits in der Ausgangskonstruktion die Krux. Im Wesentlichen wurden hier also die Forschungsergebnisse in ein Sachbuch gezwängt. Die Logik von Sachbüchern ist aber eine andere als die von wissenschaftlichen Büchern oder gar Forschungsberichten. Der Deutsche Sachbuchpreis prämiert „herausragende, in deutscher Sprache verfasste Sachbücher, die Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung geben. Bewertungskriterien sind die Relevanz des Themas, die erzählerische Kraft des Textes, die Art der Darstellung in allgemein verständlicher Sprache sowie die Qualität der Recherche.“
Die Qualität der Recherche ist bei einem wissenschaftlichen Projekt des europäischen Forschungsrates wohl außer Konkurrenz. Aber sowohl die erzählerische Kraft als auch Darstellung und Relevanz leiden unter dem wissenschaftlichen Duktus, dem wissenschaftlichen Aufbau und der äußerst speziellen Darstellung. Hier wird für eine Handvoll Feuilletonist*innen und Expert*innen geschrieben. Zwar hätte das Thema auch über den sehr eingeengten Fokus Chinas weitreichendere Bedeutung, aber eine der wichtigsten Methoden der Politikwissenschaft findet keine Anwendung: der Vergleich. Und so stehen die Ergebnisse der Forschung im luftleeren Raum. Nun ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, gleich die Schlüsse mitzuliefern. Das kann dem Diskurs in der Scientific Community überlassen werden. Aber bei einem Sachbuch, das gesellschaftliche Relevanz und gesellschaftlichen Diskurs anstoßen soll, wäre dies unabdingbar. Wem hilft der Diskurs im Elfenbeinturm, um es provokant zu formulieren.
Mal mehr mal weniger gelungen
Leider ist Leese auch ein Vertreter einer, ich nenne es mal unmodernen, Geschichtsauffassung. Während Kai Vogelsang in herausragender Weise gezeigt hat, wie sich Menschen gegenseitig bedingen und wie die Beziehungen und Verflechtungen der Menschen soziale Prozesse bedingen, schreibt Daniel Leese doch eine äußerst voluntaristische Geschichte der Kulturrevolution, Maos und der Kommunistischen Partei. Hier bedingt sich nichts gegenseitig, hier ist alles geplant und wird zu 100 Prozent auch so durchgeführt, es herrscht eine rein instrumentelle Vernunft. Hier gibt es keine echten Gefühle, sondern nur von Propaganda geschürte, die Kriegsverbrechen der Japaner, rufen keine echte Wut hervor, sondern die Kommunistischen Partei manipuliert diese durch Gefühlspolitik. Das erinnert an die grandiosen Dokumentationen von Adam Curtis oder weniger wohlwollend an verschwörungsideologische Erzählungen.
Keine Zufälle, keine sozialen Prozesse, keine „Außenwirkungen“, keine Überzeugungen, nicht einmal Fehler gesteht Leese den Handelnden zu. Letzteres liegt allerdings auch in der inneren Logik des Buches begründet, baute doch ein erheblicher Teil der juristischen Aufarbeitung der Kulturrevolution auf der Unterscheidung von Fehlern und Verbrechen auf. Und diese Unterscheidung war, wie zu erwarten, willkürlich bzw. politisch motiviert. Um sich also von dieser Erzählung zu distanzieren, scheint es nur absichtliches zielgerichtetes Handeln bei Leese zu geben. Und zwar dermaßen zielgerichtet, dass das Ergebnis immer das intendierte ist.
Nichtsdestotrotz ist Maos langer Schatten ein wichtiger Beitrag sowohl zum Verständnis Chinas als auch zum allgemeineren Verständnis von Vergangenheitsbewältigung und juristischer Aufarbeitung eigener Verbrechen.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei C.H.Beck

Sachbuch
C.H.Beck
16. Oktober 2020
Hardcover mit 25 Abbildungen und 1 Karte
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https://www.chbeck.de/leese-maos-langer-schatten/product/30931965
38,00 €
978-3-406-75545-3
Eher Forschungsbericht als Sachbuch, eher special interest als Breitenwirkung aber dennoch lesenswerte, profunde Betrachtung der Aufarbeitung des Unrechts während der Kulturrevolution.