Die Geschichte der schweigenden Frauen
50 Atombomben haben gereicht. Beginnend mit einem Krieg zwischen Indien und Pakistan breitet sich der Ultimative Krieg von dort nach Westen aus. Der Schmelztiegel des Nahen und Mittleren Ostens implodiert und reißt die Menschheit in einer Kettenreaktion in den Abgrund. Tausende Atombomben stehen in den monströsen Arsenalen der weltweiten Militärs. Doch es reichten bereits 50 Atombomben aus, um den Nuklearen Winter auszulösen. Binah Shah beschreibt in „Die Geschichte der schweigenden Frauen“ das Ende der bisherigen Welt, die Neuordnung und den gesellschaftlichen Neuanfang unter katastrophalen Voraussetzungen. Zwei, drei Generationen nach der Vernichtung eines großen Teils der Menschheit hat sich viel geändert. Doch wie so häufig nach gesellschaftlichen Umwälzungen, bleiben die strukturellen Herrschaftsverhältnisse die Gleichen. Das Patriarchat hat sich in die Zukunft gerettet.Die Metropole Greeen City ist die Hauptstadt Südwest-Asiens. Mitten in der Wüste erhebt sich diese gigantische, grüne Oase. Auferstanden aus Ruinen, dem Phönix aus der Asche nicht unähnlich, glänzt dieses moderne, technologisch fortschrittliche und den Bewohnern Sicherheit und Wohlstand bringende Paradies. Im Gegenzug erwartet die Obrigkeit von den Bewohnern Green Citys die Einhaltung restriktiver Regeln. Die Oligarchie mächtiger Männer hat diese schöne Anscheinswelt erschaffen, in der die Menschen in Wirklichkeit wie Untertanen leben, während die Herrschenden in römischer Dekadenz dahinschwelgen. Faktisch hält die Obrigkeit die Menschen mittels Gewalt und Technologie unter totaler Kontrolle. Am schlimmsten ergeht es den Frauen von Green City. Aufgrund des Krieges und Epidemien sind die meisten Frauen gestorben. Um eine neue Gesellschaft aufzubauen, sind Frauen verpflichtet, mehrere Männer zu ehelichen, um so viel Nachwuchs wie möglich zu zeugen.
„Oberirdisch sind wir bloß Frauen, aber hier unten, in der Panah, sind wir wieder zu Menschen geworden.“
Die Protagonistinnen dieser misogynen Dystopie sind eine kleine Gruppe junger Frauen, die sich diesem Horrorszenario entziehen. Versteckt in einem alten Bunkersystem unter der Erde, der Panah, sichern sie ihr Überleben, indem sie mächtigen Männern nächtliche Dienste anbieten. Dabei geht es jedoch nicht um Prostitution, sondern um Nähe, um Intimität ohne Sex, um (gespielte) Zuneigung. Etwas was in der Welt der Ausbeutung von Frauen als Gebärmaschinen kaum mehr existiert.
Manche Entscheidungen in der Geschichte der schweigenden Frauen erscheinen unsinnig und irrational, manche Entwicklungen falsch nachgezeichnet. Aber man darf sich nicht von seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen verleiten lassen. Unter den dystopischen Verhältnissen von Green City ist alles anders. Und Binah Shah beschreibt dieses (selbst-)zerstörerische Leben beklemmend real.
Es sind diese totalitären Verhältnisse, diese menschenunwürdigen, frauenfeindlichen Bedingungen, die den Alltag beherrschen. Wenn Karl Marx schreibt, der Mensch ist das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse, dann müssen pathologische Gesellschaften, kranke Individuen hervorbringen.
„Manchmal ist es tröstlicher, über die Vernichtung nachzudenken als über das Überleben.“
Missverständnisse, Kommunikationsprobleme und Geheimnisse führen zu einer gesamten Entwicklung, die niemand vorhergesehen hat und die auch so niemand wollte. Die Geschichte der schweigenden Frauen kann zugleich als ein paradigmatischer Roman des psychologischen Thomas-Theorems gelesen werden.
Was nichts anderes bedeutet, als das Menschen aufgrund der ihnen zugänglichen Informationen handeln. Und wenn sie eine Situation als real anerkennen, aufgrund ihres Wissens über diese Situation, dann wird ihr Handeln Realität schaffen, auch wenn die ursprüngliche Situation nicht real war. So können z.B. Lügen oder Gerüchte reale Handlungen erzeugen. Mit all ihren schrecklichen Konsequenzen. Bina Shah hat dieses Konzept zu Ende gedacht und in einer erschütternden Geschichte verarbeitet.
Der Roman glänzt nicht mit einem allzu ausgereiften Worldbuilding. Die Rahmenbedingungen werden zwar weitestgehend stimmig geschildert, bleiben aber hinter den Möglichkeiten des Genres zurück. Ein Meisterwerk der dystopischen oder der Science Fiction Literatur wird es nicht werden. Aber das steht hier auch nicht im Vordergrund, vielmehr werden gesellschaftliche Entwicklungen und die aktuelle Gegenwart ein wenig in die Zukunft transponiert, um als feministische Parabel ihre Kraft auf das Hier und Jetzt zu entfalten. Der Fokus liegt auf den Protagonistinnen, auf deren Leben und Erleben. Und hier liegt auch die Stärke des Romans, der zunehmend an Spannung und Geschwindigkeit gewinnt, um konsequent auf eine Tragödie zuzusteuern.
Eine Verbindung zu Margaret Atwoods Der Report der Magd zu ziehen, liegt nahe. Binah Shah betont aber, lediglich davon inspiriert worden zu sein. Die wirkliche Nähe beider Romane liegt denn auch in der feministischen Lesart und weniger im Setting.
„Sabine hatte zwar die Kämpfe nicht hautnah miterlebt, doch das hieß nicht, dass sie nicht ihren eigenen Krieg geführt hatte.“
Die Geschichte der schweigenden Frauen ist eine dystopische Parabel, die Genreliebhaber*innen eine kurzweilige Unterhaltung bietet, die aber vor allem als feministische Literatur zu wirken vermag. In Zeiten zunehmender Frauenfeindlichkeit und immer noch zahlreichen Gesellschaften mit brutaler Unterdrückung von Frauen, ist diese Dystopie, die zu sensibilisieren vermag, die Empathiefähigkeit fordert und fördert und die letztlich zur Rebellion gegen Ungerechtigkeiten provoziert, ein mutiger und unbedingt lesenswerter Roman.
Die Geschichte der schweigenden Frauen
Bina Shah
Deutsch von Annette Charpentier
Deutsche Erstausgabe
Gebunden mit Schutzumschlag
360 Seiten
Preis: 22,- €
ISBN 978-3-946503-94-1