Emilia und der Junge aus dem Meer
„Magisch, fantasievoll, unvergesslich – diese zauberhafte Geschichte hat das Zeug zum Klassiker!“ Na bei der Ankündigung braucht man mich nicht zwei Mal fragen. Phantastik und dann auch noch Kinder- bzw. Jugendbuch hat bei mir immer ein Stein im Brett. Als großer Fan von Michael Ende bin ich immer auf der Suche nach wundervollen und herausragenden Büchern dieses Genres. Und an neuen Klassikern mangelt es wahrlich – die generische Massenware dominiert auch hier mittlerweile. Nun erschien das Hardcover-Original aber im, gerade bei Ende-Liebhabern berühmten, Thienemann-Esslinger Verlag. Das verspricht durchaus Qualität. Die niederländische Erstveröffentlichung „Lampje“ erschien bereits 2017 und wurde mehrfach ausgezeichnet. Auch die Rezensionen in deutschen Medien sind ausschließlich voll des Lobes für dieses Kinderbuch, das ab zehn Jahren, von manchen schon ab acht Jahren, empfohlen wird. Sogar mit Hans-Christian Andersens „Die kleine Meerjungrau“ wird Annet Schaaps „Emilia und der Junge aus dem Meer“ in Verbindung gebracht. Dass nicht alles Gold ist, was glänzt, dafür sorgt das überbordende Marketing in letzter Zeit immer wieder. Und auch bei Lampje herrscht nicht nur heiter Sonnenschein. Wo viel Licht, da auch Schatten.
Abenteuer Leben
Aber zugegeben und vorab: Emilia und der Junge aus dem Meer hat vor allem viel Licht zu bieten. Es ist eine Geschichte im Stile der großen Phantastik-Erzählungen. Es erinnert ein wenig an Otfried Preußler, Robert Louis Stevenson, Cornelia Funke und allen voran Astrid Lindgren. Die Geschichte hat alles, was ein modernes Märchen, ein phantastisches Abenteuer haben muss. Piraten, Schiffe, Monster, gute und böse Protagonist*innen, Gruselstimmung, viel Spannung und eine meist herzerwärmende Geschichte. Im Mittelpunkt steht Emilia, bzw. Lämpchen, die Tochter des Leuchtturmwärters. Wie es in guten Kinder-Abenteuer-Geschichten der Fall ist, sind Ort und Zeit unbestimmt. Es könnte sich um die vorletzte Jahrhundertwende zugetragen haben, aber letztlich spielt es keine Rolle, wann genau. Wer kann schon genau sagen, wann das letzte Mal die Meerjungfrauen und Wassermänner an Land kamen.
Annet Schaaps Geschichte glänzt nicht unbedingt mit einer wahnsinnig innovativen Handlung. Auch bei ihr sind die generischen Versatzstücke aus der Mottenkiste des Storytellings klar zu erkennen. So wird Lampje von ihrem Vater getrennt, kommt in ein unheimliches Haus in dem ein Monster wohnen soll und wird ganz der Heldenerzählung verbunden, nach einigen Niederschlägen alles zum Guten wenden. Das Schöne an „Emilia und der Junge aus dem Meer“ ist also nicht unbedingt das große Ganze, sondern die vielen kleinen liebevollen Details. Die Rahmenerzählung ist eine gelungene Abenteuergeschichte für kleine unerschrockene Heranwachsende. Herausragend ist aber das Verweben unterschiedlicher Zeitlinien bzw. Vorgeschichten hin zum Finale. Ebenso wie die äußerst spannenden kleineren Episoden, die Emilia und der Junge aus dem Meer erleben. Dabei zeigt sich immer wieder die Herzenswärme der Autorin. Denn im Kern ist es auch eine unaufdringliche Geschichte über Außenseiter und wie sie zu sich selbst und ihrem Glück finden können. Eine Geschichte die das Selbstvertrauen stärken kann.
Phantastik mit Mehrwert…
Schaap präsentiert ein Potpourri der Ausgegrenzten. Vermeintlich Dumme, Säufer, körperlich Versehrte und Gehandicapte, Kleinwüchsige und viele andere als Fremd wahrgenommene und „Freaks“. Und immer wirbt Schaap dafür, ohne es explizit machen zu müssen, ohne den erhobenen Zeigefinger, für Toleranz, Mitmenschlichkeit und Empathie. Wenn wir die „Anderen“ verstehen, ihre Schicksale (an)erkennen, dann fallen auch schnell die Vorurteile und Schranken, die wir aus Angst selbst errichten. Insofern ist „Emilia und der Junge aus dem Meer“ eine wunderbare phantastische Erzählung von der es gerne mehr geben darf. Herausragende Literatur für Jugendliche mit einer einfachen und einfangenden Sprache. Aber und das ist wieder einmal ein sehr großes Aber: es ist meines Erachtens nur sehr bedingt Kinderliteratur.
… und ohne Mehrwert
Pädagogisch äußerst bedenklich ist der Umgang mit häuslicher Gewalt. Da verprügelt der Vater seine Tochter und das offenbar mehrmals, aber die Tochter weiß ja, dass er es eigentlich gar nicht so meint. Uff. Echt jetzt? Und das hat bisher keinen Eingang in eine der zahlreichen Rezensionen auch des ÖR gefunden? Da wird eine Person mit mehreren Messerstichen ermordet, was aber zu keiner weiteren moralischen Einordnung führt. Ist halt so. Das erinnert zumindest in Ansätzen an Peter Pan. Narrative einer längst vergangenen und überwunden geglaubten Zeit. Klar, auch bei Astrid Lindgren gibt es Tote und Gewalt. Aber da findet eine eindeutige Einordnung statt. Und auch wenn Ambivalenz zum Leben gehört und vor allem persönliche Schicksale prägt, gehört das in ein Kinderbuch? Ohne Deutungshilfe? Was ist da die Lehre, die sich Kinder herbeifantasieren? Wenn Papa zuschlägt, ist es schon nicht so schlimm, der hat halt auch eine schwere Zeit?
Was mich betrübt, ist, dass die Geschichte auch ohne diese Stellen hervorragend funktioniert hätte. Warum sind die dann da drin? Mag sein, dass es Achtjährige gibt, die durch Social Media, Computerspiele und Fernsehen dermaßen verroht sind, dass man denen dieses Buch empfiehlt, aber eigentlich sollte die Zielgruppe doch eine andere sein. Wer heute als Kind viel liest und sich für solche Abenteuergeschichten begeistern lässt, dürfte vermutlich gerade nicht zu der eben genannten Gruppe gehören. Wenn man dies beachtet und die Altersempfehlung auf 12 anpasst, dann scheint mir das wesentlich treffender zu sein. Auch und gerade in Anbetracht der Diskussionen um die Altersempfehlung bei der Veröffentlichung der Harry Potter Reihe. Für Ältere also ein tolles Buch und eine klare Empfehlung. Ob das zum Klassiker reicht, mag ich allerdings bezweifeln.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei cbj.

Kinderbuch
cbj
10. August 2022
Taschenbuch
400
https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/Emilia-und-der-Junge-aus-dem-Meer/Annet-Schaap/cbj-Kinderbuecher/e585454.rhd
Eva Schweikart
10,- €
978-3-570-31445-6

Märchenhafte Phantastik mit einigen Einschränkungen