Biest
Ane Riels Idee zum Roman Biest kam ihr, jedenfalls wenn man dem Nachwort Glauben schenken mag, als sie von einem an einem Gendefekt leidenden Kind aus Deutschland gelesen hatte. Dieses Kind hatte ein enormes und überbordendes Muskelwachstum. Ausgehend von dieser wahren Begebenheit wollte Riel eine Geschichte rund um diesen Muskelmann bzw. dessen Kindheit schreiben. Irgendwie scheinen ihr dabei die Ideen ausgegangen zu sein oder das Thema ist ihr entglitten. Jedenfalls hat sie sich dann doch stark an literarischen Vorlagen bedient. Der Vergleich mit Mäusen und Menschen mit John Steinbeck ist dermaßen offensichtlich, dass der Hinweis im Nachwort überflüssig gewesen wäre. Aber damit nicht genug, ist der namengebende Protagonist eine Mischung aus Steinbecks Lenny und Stephen Kings Deuteragonist John Coffey aus The Green Mile.Das „Biest“ ist natürlich ein großer, grotesk starker, aber geistig eingeschränkter Mann oder besser Junge. Die Infantilisierung oder eigentlich müsste man fast schon sagen Animalisierung des Protagonisten „Leon“ ist dabei überaus stereotyp. Gutmütig, ohne jegliche bösartigen Absichten und dennoch mehr oder weniger versehentlich gewalttätig. Ein Kind, das seine Kräfte nicht einzuschätzen weiß. Tragisch. Und unfassbar vorhersehbar. Noch tragischer ist es aber, da die Geschichte heutzutage irgendwie nicht mehr so richtig funktionieren will, zumindest wenn mal allzu große Logiklöcher vermeiden möchte, Zeit und Ort einfach zu verlagern. Kurzerhand wird die Handlung in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts nach vermutlich Slowenien ausquartiert. Das soll die ländlich-bäuerliche und irgendwie auch implizit etwas zurückgeblieben dümmliche und auch stark religiöse Hintergrundgeschichte plausibler machen. Das funktioniert auch tatsächlich, ist aber erstens viel zu dicht an Steinbeck orientiert und zweitens spricht es auch Bände über unsere Vorurteile.
Schüttest du Schnaps auf eine gequälte Seele erhältst du einen Teufel
Man liest schon, so richtig glücklich bin ich mit dem Roman nicht geworden. Das liegt vor allem an meinen enttäuschten Erwartungen. Fabuliert der Klappentext doch von einem modernen Märchen dazu soll der Roman „tragisch, aufregend, warmherzig und humorvoll“ sein. Meine Auswahlkriterien sind häufig von eben diesen Klappentexten beeinflusst. Ich will gar nicht mehr über einen Roman wissen, ich will mich dann überraschen lassen. Und das geht in letzter Zeit recht häufig daneben. Ein Klappentext sollte schon den Kern eines Romans treffen oder wiedergeben.
Man muss schon eine sehr weite Interpretation von „Märchen“ anlegen, um hier zu diesem Begriff zu kommen. Groteske Tragödie hätte es besser getroffen, ohne jedoch grotesk hier allzu positiv zu meinen. Auch die Adjektive wollen nicht so richtig passen. Der Humor ist eher speziell und mir zu zynisch, wenn man auch gelegentlich schmunzeln muss. Aufregend kann ich auch nur mit der Lupe und sehr wohlwollend finden. Warmherzig mag der Grundgedanke sein und die Warmherzigkeit findet sich auch sicher in der ein oder anderen Szene wieder. Aber es ist eben nicht gerade der prägende Gedanke, der sich nach dem Lesen einstellt.
Wer weder „Von Mäusen und Menschen“ oder „The Green Mile“ kennt, kann hier allerdings problemlos reinlesen. Wer die grundlegende Geschichte so wunderbar findet, dass man sich an den überdeutlichen Parallelen nicht stört, wird ebenfalls Gefallen an dem Roman finden können. Bis hierhin hätte ich ebenfalls noch ein Auge zudrücken können, was mich aber massiv gestört hat, sind die zahlreichen sexuellen Anspielungen und Darstellungen. Was ist bloß mit Ane Riedel los? In psychoanalytischen Theorien spricht man bei kreativen Prozessen also vor allem auch bei Kunst und ganz zentral auch beim Schreiben von gelungener Sublimierung. Im Wesentlichen geht es darum, dass (sexuelle) Triebenergie weg vom ursprünglichen Objekt (der Begierde) hin zu einer gesellschaftlich höherwertigen Leistung gelenkt wird. Oder etwas einfacher: weg vom Verkehr hin zum produktiven Schaffen.
Ambivalentes Lesevergnügen
So richtig verzweifelt wirkt das dann aber, wenn es im literarischen Schaffen, dann doch wieder nur um Sex geht. Oder noch schlimmer: Alkohol, Sex und Gewalt. Damit hätte man nämlich die Heilige Dreifaltigkeit des Marketings zwischen zwei Buchdeckel transformiert. Und genau das ist hier geschehen. Wobei die sexualisierten Abschnitte wirklich penetrant sind und ich mich mehrfach gefragt habe, ob ich nicht eine lüsterne Schmonzette lese, für sehnsuchtsvolle Menschen, die keinen Sex mehr haben. Klingt vielleicht etwas gemein, aber genauso liest es sich. Selbst bei völlig unerotischen oder asexuellen Sätzen wird mit infantiler Freude ein sexualisierter Begriff eingeschoben. So wird dann schon mal aus einem geschienten Finger ein erigierter Finger.
Leider bleiben auch die ein oder andere Stelle mit gewissen Logikschwierigkeiten nicht aus. Dann noch etwas religiös verbrämte Symbolik und fertig ist der Bestseller aus der Retorte. Insgesamt wirkt es dann doch so, dass nach den ersten beiden Bucherfolgen von Ane Riedel der Druck zu hoch wurde und auf Erfolgsrezepte zurückgegriffen wurde.
Und dennoch ist der Roman zweifelsohne gut geschrieben, liest sich sehr angenehm und ist auch, trotz der Mankos, durchaus spannend und unterhaltsam. Ich habe ihn schnell und im Rahmen der angebrachten Kritik auch gerne gelesen. Eine Empfehlung fällt aber schwer. Wer sich an den kritisierten Punkten nicht stört, wird aber sicherlich unterhaltsame Stunden mit einem Biest verleben.
Mehr Informationen inklusive Leseprobe gibt es direkt bei btb.

Roman
btb
14. Juni 2022
Paperback
528
https://www.penguinrandomhouse.de/Paperback/Biest/Ane-Riel/btb/e574791.rhd
Aus dem Dänischen von Julia Gschwilm
12,- €
978-3-442-77064-9

Von Mäusen und Menschen trifft Green Mile und überzeugt dabei nicht so richtig!
Hallo Sascha,
uiuiuiui… Von Ane Riel habe ich bisher nur „Harz“ gelesen, und das fand ich noch richtig gut. „Biest“ klingt jedoch wirklich eher nach „gute Idee, auf halber Strecke abgesoffen“. Nee, ich glaube, dann lese ich doch lieber „Green Mile“ und/oder „Von Mäusen und Menschen“ noch mal, das scheint mir lohnender.
LG,
Mikka
Liebe Mikka, vielleicht ist meine Rezension auch zu negativ geworden. Andererseits habe ich ja noch nicht einmal erwähnt, dass ganze Szenen 1:1 übernommen wurden. Die bekommen dann zwar einen eigenen Spin bei Ries, aber besser ist der dann auch nicht.
LG
Sascha