Die Königin von Troisdorf
Alle Kinder haben Träume, Wünsche und Hoffnungen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Je nach den gesellschaftlichen Umständen passen sie im Laufe des Heranwachsens ihre Vorstellungen an oder ändern die Umstände, so es denn in ihrer Macht liegt. Soziologisch nennt man das auch Sozialstruktur- und Persönlichkeitsstruktur sind interdependent. Und zur Zeit der 68er sagte man etwas verkürzt in Anlehnung an Karl Marx „Menschen machen einander“. Kinder wachsen also immer in eine bestehende Gesellschaft hinein und diese Gesellschaft prägt die Persönlichkeiten der Kinder, welche wiederum auf die Gesellschaft wirken. Ein ewiger Kreislauf könnte man sagen, oder im pessimistischeren Falle: ein Teufelskreis. Andreas Fischer beschreibt in seinem autobiografischen Debut eine deutsche Familiengeschichte über drei Generationen. Weltgeschichte prägt Familiengeschichte prägt Individuen. In seinem Kriegsenkelroman geht es auch um die Frage, wie aus Lenchen, die Königin von Troisdorf werden konnte.Lenchen ist die Matriarchin der Familie. Oma Lena, Jahrgang 1894, erlebte zwei Weltkriege, Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und die Bundesrepublik. Zusammen mit ihrer Tochter Ilse, Jahrgang 1923 bildet sie das von Fischer leicht zynisch genannte Duo „Hindenburg und Ludendorff“. Die Wut oder Enttäuschung über eine destruktive Familienbeziehung liest sich nicht immer so deutlich wie bei diesen Namen, ist aber bei Fischer stets präsent, ohne in plakative Anklagen zu verfallen.
Fischer geht es darum zu verstehen, wie aus zwei jungen Frauen „Kaltmamsellen“ werden konnten. Es sind aber nicht nur die Frauen der Familie, deren Persönlichkeit durch die Weltkriege negativ geprägt wurde. Der Vater ist Alkoholiker und vor den Ausrastern des Onkels haben alle Angst. „Wenn du nicht brav bist, dann zeigt Oma Onkel Bruno den Zettel und sagt, du hättest ihn geschrieben. Und dann schlägt Onkel Bruno dich tot.“ Dabei bleibt vieles dennoch ambivalent. Tante Hilde und Onkel Brunos Wohnung bleibt der sichere Hafen. Das Leben ist selten eindeutig.
Home Sweet Home
Nach Außen wird die neue deutsche Bürgerlichkeit präsentiert. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit wird auch von den Fischers gelebt. Andreas Fischer wird 1961 geboren, die Familie betreibt mittlerweile ein gut gehendes Fotoatelier im rheinischen Troisdorf. Man besitzt mehrere Häuser, ein neues Auto, geht als gute Deutsche und vorbildliche Katholiken selbstverständlich sonntags in die Kirche – zumindest die Frauen und das Kind. Die Nachbarn können und sollen ruhig sehen was für gute Bürger hier wohnen. Doch wie so häufig trügt der Schein. Die Weltkriege und die Menschenbilder und Ideologien der Zeit wirken nach. Oder wie es Alfred Grosser sagte: „Nein, das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist.“ Die Erfahrungen prägen und wirken in die Gegenwart hinein, umso mehr je traumatischer sich das Erlebte oder die Erziehung eingebrannt haben.
Was dich bewegt, den Menschen zeige.
Die Welt will strengerfüllte Pflicht.
Die wahre Liebe kennt sie nicht;
Darum, was dein Herz bewegt,
verschweige!“Aus dem Poesiealbum der Mutter (Juli 1938)
Wie oft hören wir in Deutschland die Rufe nach dem Schlussstrich unter Deutschlands Erinnerungskultur bezüglich des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Verbrechen. Das sei alles schon ewig her und von den Betroffenen lebe eh fast keiner mehr. In den Sozialwissenschaften weiß man schon lange, dass die Traumata von Krieg und Verbrechen an die nächsten Generationen weitergegeben werden können. Aber auch jenseits der Transgenerationenforschung kennt jede*r Geschichten aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis über den trinkenden, cholerischen oder gar gewalttätigen (Ur-)Großvater, der im Krieg war.
„Dich Bürschchen sollte man mit dem Kopp gegen die Wand klatschen!“
Hinter den eigenen vier Wänden spielen sich die Dramen ab, die die deutsche Nachkriegsgesellschaft millionenfach erlebte und zugleich tabuisierte. Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen werden als Spleen oder als unabänderliche Gegebenheit hingenommen. Andreas Fischers autobiografischer Roman kann hier als Paradigma dienen, um einige geradezu idealtypische Entwicklungen aufzuzeigen. Man kann den gesamten Roman als empirisches Beispiel für die Theorien Alfred Adlers, Erich Fromms und Arno Gruens lesen, die sich mit der menschlichen Destruktivität als Ergebnis unterdrückter, entfremdeter und traumatisierter Gefühle auseinandersetzen. Gerade Gruens „Der Wahnsinn der Normalität“ könnte Pate gestanden haben.
„Keine Härte, keine Kälte, darf größer werden als mein Stolz.“
So fragt Fischer, wie es dazu kommen konnte, dass die Oma ihren eigenen Enkel verabscheut? Dabei steht das Kindliche für das Schwache, dass die Ideologie des Nationalsozialismus ausmerzen wollte. Stark und heroisch hatte das Männliche zu sein. Wohin das führt, zeigt Fischer grandios, indem er Feldpostbriefe und andere Archivalien in den Roman einwebt, die das Werk zugleich zu einem zeitgeschichtlichen Dokument machen. Dies alles geschieht ohne Anprangerung. Es wird gezeigt und nicht beschrieben – Literatur im besten Sinne. Die Schlüsse werden nahegelegt, aber nicht aufgezwungen. Es bleibt den Leser*innen überlassen, das Gelesene zu interpretieren. Der erhobene Zeigefinger findet nicht statt.
„Dass du deine Mutter auch so in Wut bringst. Pfui. Schäm dich!“
Das Panorama des alltäglichen Gegeneinanders, der zur Normalität gewordenen Grausamkeit, umfasst mehr als 100 Jahre. Von 1914 bis 2014, vom Einsatz des Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg bis zum Tod der Mutter, nimmt Fischer Episoden aus dem Leben der Familie auf und zeigt somit eine Kontinuität, die häufig durch kurzfristigere Perspektiven verschütt geht. Dabei ist die Familie Fischer weder besonders schlimm noch Ausdruck der Banalität des Bösen. Es sind eher ganz normale Deutsche. Mit ganz normalen destruktiven Beziehungen. Kriegs- und Nachkriegsgenerationen – ein Kriegsenkelroman eben.
„Schmerz fürs Vaterland“
Andreas Fischer hat in seinem autobiografischen Debutroman ein außergewöhnliches und dennoch paradigmatisches Werk geschrieben, dass hoffentlich eine breite Leserschaft erreicht. Was hier für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft beschrieben ist, kann als universell gelten. Die Auswirkungen von Krieg und Zerstörung enden nicht mit dem Einstellen der Kampfhandlungen. Unter der Geißel der Menschheit leiden auch die Nachfolgegenerationen.
Eine unbedingte Leseempfehlung!
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Roman/Sachbuch
eschen 4 verlag
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22,50 Euro
978-3-00-070369-0

Grandioser unbedingt empfehlenswerter Kriegsenkelroman! Das Vergangene ist nicht vorbei!
Vielen Dank, Sascha, für diesen ganz besonderen Lesetipp! Ich freu mich schon auf das Buch.