Ab morgen wird alles anders
Adorno philosophierte einst: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Ursprünglich sollte der Satz einmal lauten: „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.“ Beides ficht Anna Gavaldas Figuren nicht an, es nicht wenigstens zu versuchen. Ab morgen wird alles anders, ab morgen wird richtig gelebt. Und wenn schon nicht besser, dann wenigstens anders.
Es ist schon ein seltsames Buch, das Gavalda da zusammengestellt hat. Einerseits still, manchmal geradezu melancholisch, dann wiederum jugendlich schrill, teilweise bis zur Schmerzgrenze (zumindest was das Vokabular betrifft). Es ist eine Episodenerzählung. Die einzelnen Abschnitte fügen sich durch den Titel, den Ort aber vor allem durch die Gefühle der Figuren ineinander, ansonsten sind es eigenständige Kurzgeschichten. Zwei der Geschichten hat Gavalda bereits 2014 im Band „La vie en mieux – Deux histoires“ veröffentlicht – Yann und Mathilde. Die drei anderen Erzählungen sind für den deutschen Band neu hinzugekommen.
Wir sind in Paris. Der Stadt der Liebe und wie ich finde eine der wundervollsten Städte der Welt.
Quelle: Wikimedia Commons | Autor: Zinneke | CC BY-SA 3.0
Wir begleiten Jeannot, einen LKW-Fahrer, der seinen Sohn verloren hat und seine Ehe gleich mit. Mathilde, die junge Pseudostudentin, die in einem Café 10.000 Euro verliert, die ihr nicht einmal gehören. Pierre verliert fast seinen Verstand in den Mühlen der Verwertungsgesellschaft, Yann verliert sich selbst und Lulu sollte sich weniger oft verlieren. Nun ist man kurz geneigt die Phrase zu verwenden „Geschichten wie sie das Leben schreibt“ aber das wäre, nicht nur der Phrase wegen, falsch. Denn das Leben verwendet nicht solch wundervolle Sätze wie es Anna Gavalda immer wieder gelingt („Sie spielten Mikado mit ihren Nerven…“ „Laut Backofen war es 13:38, als ich mit einem gewaltigen Kater aufwachte. Dem schönsten in meiner bisherigen Sammlung“ „Ein junger Mann hatte mich mit in seine Wohnung genommen. An seinem Arm war ich fröhlich gewesen, in seinem Bett nicht mehr.“) Das Leben schreibt eben keine Romane. Das Leben hat keine Schreibfeder, sondern einen Holzhammer. Und wir sehen dem Holzhammer bei der Arbeit zu, während uns Gavalda, den Schmerz, die Freude, die Verzweiflung, Hoffnung, Liebe über den Umweg der Feder anbietet.
Ein Buch wie ein Chanson. Eine Ode an Paris, an das Leben, an die Zuversicht und natürlich auch an die Liebe.
Ist das Buch wirklich dem Leben abgeschrieben? Ist es eine Momentaufnahme des modernen Lebens in entfremdeten Zeiten? In Zeiten der Gefühlskälte, des Konsums und des Ich-Marketing? Wo alles steril und geordnet bleiben muss? Wo der Lebenslauf perfekt konzipiert sein will, wenn man einen guten Job bekommen möchte? Wo das Leben nur noch die leisen Töne spielen darf, während „der Markt“ im Allegro vorbeirauscht. Ganz sicher nicht. Die Figuren sind simplifiziert, geradezu stereotyp. Das meint nicht, dass sie keine Gefühlstiefe oder Charakter hätten – ganz im Gegenteil. Gavalda schafft es selbst in den kürzeren Geschichten die Protagonisten dermaßen lebendig zu gestalten, ihr Gefühlsleben so deutlich in den Vordergrund zu bringen, dass man meint, man hätte gerade Geschichten aus seinem Bekanntenkreis gelesen.
Vielmehr sind die stereotypisierungen ein Stilmittel. Nicht jede einzelne Handlung, nicht jeder einzelne Gedanke ist glaubwürdig – darum geht es auch nicht. Aber jedes einzelne Gefühl, jedes Gespräch kommt genauso vor, hier wird es nur literarisch verdichtet. Besonders die Geschichte von Mathilde entwickelt einen Sog, eine Wucht, eine Nähe, die ich so selten gelesen habe. Mathilde ist ein Meisterwerk – und das trotz oder wohl auch wegen der teils schnoddrigen Sprache. Ich kenne Mathilde. Sie ist Teil meiner Geschichte und Teil der Geschichte der meisten Menschen aus meinem Freundeskreis. Und so ist es auch mit Jeannot, Pierre und Yann. Es sind nicht verschiedene Personen, es sind verschiedene Phasen im eigenen Leben, es sind Charaktergewordene Gefühle und Gedanken. Lediglich Lulu fällt da etwas heraus – nicht, dass man hier Abgründe in sich selbst nicht sehen wollen würde, sondern hier rückt die Kunst des Erzählens hinter die Botschaft. Das ist glücklicherweise in den ersten vier Geschichten weitaus besser gelungen.
Ab morgen wird alles anders ist grandiose Literatur, die lediglich in einigen Abschnitten zu langatmig wird und nicht durchgehend die Klasse halten kann. Deshalb ist es auch kein allgemeines Mustread. Wer aber Anna Gavalda mag, wer Charakterdarstellungen liebt, wer sein Herz in Paris gelassen hat und wer ab morgen alles anders machen und solche Sätze lesen möchte: „Menschen, die man liebt, trifft man nicht, die erkennt man. Wussten Sie das nicht?“ wird ein wundervolles Buch erhalten.
Mehr Infos direkt beim Verlag inklusive Leseprobe
Anna Gavalda
Ab morgen wird alles anders
Erzählungen
übersetzt aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Erscheinungsdatum: 30.01.2017
304 Seiten
Hanser Verlag
Fester Einband
20 €
ISBN 978-3-446-25049-9
ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25601-9