Cover_Bartleby
Product by:
Herman Melville
Preis:
7,00 €

Rezension von:
Bewertung:
5
21. April 2017
Letzte Änderung:18. November 2017

Pflichtlektüre. Punkt.

Bartleby, der Schreiber – Eine Geschichte aus der Wall Street

Wenigen Schriftstellern ist es vergönnt in das literarische Gedächtnis der Menschheit aufgenommen zu werden. Noch weniger Bücher schaffen es in den Olymp, der für alle Zeit lesbaren Geschichten. Und nur den außergewöhnlichsten Autoren gelingt es, sich mit einzelnen Sätzen oder Fragmenten ihrer Werke zu verewigen. Goethes Faust ist hier das Paradigma. „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor!“ „Das also war des Pudels Kern!“ „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, Kann man getrost nach Hause tragen.“ „Der Worte sind genug gewechselt, Laßt mich auch endlich Taten sehn“. „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Goethes Faust ist deutsches Kulturgut. Zahlreiche seiner Sätze sind Redewendungen und Aphorismen geworden. Zwar ist den meisten Menschen vielleicht nicht bekannt, dass es sich um Sätze aus Goethes Faust handelt, aber als von den Großeltern tradiertes Idiom kennen es dann doch wiederum viele. Herman Melville hat mit seinem Bartleby, der Schreiber ebenfalls eine Sentenz für die Ewigkeit geschaffen: „Ich möchte lieber nicht.“ Oder im Original noch schöner: „I would prefer not to.“

Melville ist vor allem für seinen „Moby Dick“ berühmt geworden. Das gilt allerdings nur im Nachhinein. Zu Lebzeiten verkaufte sich der Roman lediglich dreitausendmal. Die Anerkennung des Werkes als Teil der literarischen Weltgeschichte hat Melville nie erlebt. Das wiederum dürfte jedoch der Ansporn gewesen sein für eine der bedeutendsten Kurzgeschichten der Weltliteratur. Bartleby, der Schreiber erschien erstmals 1853 und hat bis heute nichts an seiner Faszination verloren. Es gibt unzählige Kritiken und Rezensionen, zahlreiche Interpretationen, wissenschaftliche Artikel und sogar Dissertationen und Monographien, die sich ausschließlich der Deutung und Genese von Melvilles Bartleby widmen. Und auch Psychoanalytiker ließen es sich nicht nehmen, den Roman als Ausdruck der Psyche Melvilles zu deuten. Falsch ist das sicherlich auch nicht.

O Bartleby! O Menschheit!

Bartleby ist ein stiller, zurückhaltender Schreiber, ein Kopist, der von den wichtigen Dokumenten seines Arbeitgebers, eines Anwalts und Notars in der Wall Street, Zweitschriften anfertigt. Seine Aufgabe erledigt er still aber präzise. Bis er an seinem dritten Arbeitstag eine Abschrift zur Korrektur gegenlesen soll. Der Aufforderung seines Arbeitgebers entgegnet Bartleby mit den unsterblich gewordenen Worten: „Ich möchte lieber nicht!“ Von dieser Arbeitsverweigerung völlig überrumpelt, verzichtet der Notar auf Konsequenzen. Lediglich die anderen Mitarbeiter müssen nun umso mehr schaffen.

Kurz darauf beginnt Bartleby auch noch seine Kernaufgabe, das Anfertigen der Kopien, mit der berühmten höflichen Formulierung abzulehnen. Der Mitarbeiter, der gar nicht arbeitet und tatsächlich sogar in der Kanzlei zu wohnen beliebt und sich auch nur auf rätselhafte Weise zu ernähren scheint, stellt den Notar zunehmend vor Schwierigkeiten.

Melvilles Bartleby ist ein Meisterwerk. Allerdings lohnt es in diesem Fall tatsächlich, sich ein wenig mit Melvilles Biographie auseinanderzusetzen oder sich gleich noch Sekundärliteratur zu besorgen. Es ist zwar nicht so, dass Bartleby unmöglich zu interpretieren wäre, aber es gibt eben mehrere Schichten, verschiedene Perspektiven und unterschiedliche Aspekte, die man beim Lesen und darüber Nachdenken berücksichtigen kann. Bartlebys Wirken ist genauso geheimnisvoll wie sein Leben und Sterben. Den Beweggründen des Schreibers als auch des Autors auf die Spur zu kommen, gleicht einer eigenen Detektivarbeit. Und wer meint, alles sofort durchschaut zu haben, wirft vielleicht doch noch einen Blick in die Sekundärliteratur.

Es sei denn, man möchte lieber nicht.

Herman Melville
Bartleby, der Schreiber – Eine Geschichte aus der Wall Street
Aus dem Amerikanischen und mit Erläuterungen von Jürgen Krug
Broschur
96 Seiten
insel taschenbuch
Preis: 7,00 €
Erschienen: 26.07.2004
ISBN: 978-3-458-34734-7